Rotkäppchen und der böse Wolf
sich ertappt, weil ihre Tante zu deutlich bemerkt hatte, dass der große, breitschultrige Mann nicht ganz ohne Wirkung auf Akis Gemütszustand gewesen war. „Ich weiß nicht“, murmelte sie trotz allem. Miza sah auf, weil ihnen in diesem Augenblick ihr Essen serviert wurde. „Fühl dich nicht unter Druck gesetzt“, sagte sie und zog einen Notizblock aus der Tasche. Sie kritzelte etwas darauf und reichte den zusammengefalteten Zettel ihrer Nichte. „Dort steht der Termin der nächsten Party und die Adresse“, sagte sie. „Wenn du Lust hast, komm einfach hin und schau es dir an, wenn nicht, lass es einfach bleiben.“ Sie zwinkerte Aki aufmunternd zu. „Die Hauptsache ist, dass du keinen zu großen Schreck bekommen hast, um deine Tante genauso schnell wieder zu vergessen, wie es deine Mutter getan hat.“
Aki schmunzelte. „Keine Sorge, das wird ganz sicher nicht geschehen.“
Miza zwinkerte und begann zu essen.
Das Datum auf dem Zettel war der kommende Freitag. Aki trug ihn in ihrer Manteltasche und hatte den Rest der Woche das Gefühl, als würde das Papier aus glühender Kohle bestehen und eine unwirkliche Hitze in ihrer Tasche verbreiten. Sie hatte ihn immer wieder hervorgeholt: Bei der Arbeit in einer ruhigen Minute, während der Fahrt in der Bahn, oder wenn sie abends allein zu Hause war. Ihrer Mutter hatte sie nichts von ihrem Treffen mit Miza erzählt und auch mit ihren Freundinnen, mit denen sie sich im Laufe der Woche traf, sprach sie nicht darüber. Mizas Worte hatten sie neugierig gemacht, und der Hinweis auf Lucius übte einen ganz besonderen Reiz aus. Aki musste bei der Erinnerung an seine eher spärlichen Künste am Steuer lächeln. Sobald sie aber an seinen Blick dachte, mit dem er sie gemustert hatte, wandelte sich das Lächeln zu Schaudern. Da war etwas Hungriges in seinen Augen gewesen, und Aki wurde das Gefühl nicht los, dass ein Raubtier hinter diesen Augen lauerte, deren Farbe sich einfach nicht genau bestimmen ließ.
Sie war die Beute, aber nur, wenn sie es selbst wollte. Das spürte sie genau.
Freitagnachmittag war sie nervöser denn je. Sie hatte sich noch immer nicht bewusst für oder gegen die Party entschieden und traute sich auch nicht, Miza anzurufen. Würde sie zusagen und dann doch nicht kommen, wäre ihr das unsäglich peinlich, und sie würde ihre Tante enttäuschen. Würde sie absagen, wäre Miza sicher von vornherein enttäuscht. Außerdem würde sie sich selbst wie ein Feigling fühlen. Aber wollte sie wirklich in diesen Club? Was, wenn Lucius sich als perverser Lederkerl entpuppte, der wild die Peitsche schwingend durch den Club lief, und Miza einfach die weibliche Variante zu ihm darstellte? Das Bild war albern und reizte Aki zum Lachen, aber ihre Sorgen blieben. Sie sah auf den Zettel, den sie vor sich auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte. Die Adresse des Clubs war nicht allzu weit entfernt. Sie konnte einen kleinen Spaziergang machen, sich den Club von außen ansehen und dann wieder verschwinden. Niemand würde sie sehen, und sie könnte sich einen flüchtigen Eindruck verschaffen. Es hieß ja nicht, dass sie deswegen gleich hineingehen musste!
Der Gedanke beruhigte sie. Genau so würde sie es machen. Sie ging ins Bad, schminkte sich und zog dann ihre einfache Hauskleidung aus. Sie entschied sich jetzt für ein rotes Kleid, das ihre schlanke Figur betonte. Ein Push-up sollte von ihren ein wenig zu klein geratenen Brüsten ablenken. Als sie sich so sah, runzelte sie die Stirn. Irgendetwas fehlte. Sie konnte nicht genau benennen was, aber das kurze Kleid und die passenden Pumps verlangten nach mehr. Aki wandte sich vom Schlafzimmerspiegel ab und holte ihre Schminktasche aus dem Bad. Hastig kramte sie darin herum und förderte schließlich einen roten Lippenstift zutage. Sie drehte ihn nahezu ehrfürchtig auf und malte ihre vollen Lippen mit der sinnlichen Farbe an. Prüfend musterte sie sich ein zweites Mal im Spiegel und nickte zufrieden. Das war der richtige, letzte Akzent gewesen.
Eines Tages wurde Rotkäppchen geschickt, um ihre Großmutter zu besuchen. „Aber hüte dich vor dem dunklen Wald“, ermahnte sie die Mutter noch einmal, „und lass dich nicht vom rechten Pfad abbringen.“
Das Mädchen nickte gehorsam. Aber auf ihrem Weg sah sie ein paar hübsche Blumen und verließ den Pfad, um sie sich genauer anzuschauen. Immer weiter entfernte sie sich vom schützenden Pfad und begegnete im tiefen, dunklen Wald dem Wolf …
Aki wickelte den
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