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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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hinweggekommen, die Arme. Die Polizei hat ihn ja nie gefunden, und obgleich Helena nicht angeklagt wurde, brachte André Brockhard die Krankenhausleitung dazu, sie zu entlassen. Sie zog in die Stadt und leistete ehrenamtliche Arbeit für das erzbischöfliche Ordinariat, bis die finanzielle Not der Familie sie zwang, eine bezahlte Arbeit anzunehmen. So begann sie mit der Schneiderei. Innerhalb von zwei Jahren hatte sie bereits vierzehn Frauen angestellt, die den ganzen Tag für sie nähten. Ihr Vater war wieder auf freiem Fuß, doch nach dem Skandal mit den jüdischen Bankiers fand er keine Arbeit. Frau Lang verkraftete den Niedergang der Familie amschlechtesten. Sie starb nach längerer Krankheit 1953 und Herr Lang im gleichen Herbst durch einen Autounfall. 1955 verkaufte Helena die Schneiderei und verließ dann, ohne sich vorher zu verabschieden, das Land. Ich erinnere mich noch an den Tag, es war der 15. Mai, Österreichs Befreiungstag.«
    Fritz bemerkte Harrys fragenden Gesichtsausdruck und erklärte:
    »Österreich ist etwas eigen. Hier feiern wir nicht Hitlers Kapitulation, sondern den Tag, an dem die Alliierten das Land verlassen haben.«
    Dann erzählte Beatrice, wie sie von Helenas Tod erfahren hatte.
    »Wir hatten mehr als zwanzig Jahre nichts von ihr gehört, als ich eines Tages einen in Paris abgestempelten Brief erhielt. Sie sei dort mit ihrem Mann und ihrer Tochter in den Ferien, schrieb sie. Ich begriff bald, dass es eine Art letzte Reise sein musste. Sie erzählte nicht, wo sie wohnte, mit wem sie verheiratet war oder an welcher Krankheit sie litt. Nur, dass sie nicht mehr viel Zeit habe. Und dann bat sie mich, eine Kerze im Stephansdom für sie anzuzünden. Sie war ein außergewöhnlicher Mensch, diese Helena. Mit sieben Jahren kam sie mal zu mir in die Küche, sah mich mit ernsten Augen an und sagte, dass die Menschen von Gott erschaffen worden seien, um zu lieben.«
    Eine Träne rann über die faltige Wange der Alten.
    »Ich werde das nie vergessen. Mit sieben Jahren. Ich glaube, sie hatte sich damals entschlossen, wie sie ihr Leben leben wollte. Und obgleich es ganz sicher nicht so wurde, wie sie es sich vorgestellt hatte, und sie viele und harte Prüfungen überstehen musste, bin ich überzeugt davon, dass sie ihr ganzes Leben daran festgehalten hat – dass die Menschen von Gott geschaffen sind, um zu lieben. Sie war einfach so.«
    »Haben Sie diesen Brief noch?«, fragte Harry.
    Sie trocknete sich die Wange und nickte.
    »Ich habe ihn in meinem Zimmer. Aber lassen sie mich noch einen Moment hier mit meinen Erinnerungen sitzen, wir können später hineingehen. Es wird übrigens die erste warme Nacht des Jahres geben.«
    Sie saßen still da und lauschten dem Rauschen der Zweige und dem Gesang der Vögel, die den Untergang der Sonne begleiteten, diesich hinter der Sophienalp dem Horizont näherte. Jeder von ihnen dachte an seine Toten. Insekten hüpften und tanzten in den letzten Sonnenstrahlen unter den Bäumen. Harry dachte an Ellen. Er hatte einen Vogel entdeckt und war sich sicher, dass es sich dabei um diesen Fliegenschnäpper handeln musste, von dem er ein Bild im Vogelbuch gesehen hatte.
    »Lassen Sie uns gehen«, sagte Beatrice.
    Ihr Zimmer war klein und einfach, doch hell und gemütlich. An der Längsseite stand ein Bett, die Wand darüber war mit kleinen und großen Bildern übersät. Beatrice blätterte durch die Papiere, die sie in der Kommodenschublade hatte.
    »Ich habe ein System, ich werde ihn gleich finden«, sagte sie. Hoffentlich, dachte Harry.
    Im selben Augenblick fiel sein Blick auf ein Bild in einem silbernen Rahmen.
    »Hier ist der Brief«, sagte Beatrice.
    Harry antwortete nicht. Er starrte das Bild an und reagierte erst, als er ihre Stimme unmittelbar hinter sich hörte.
    »Die Fotografie ist gemacht worden, als Helena im Krankenhaus arbeitete. Sie war schön, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Harry, »sie kommt mir so seltsam bekannt vor.«
    »Das ist nicht so erstaunlich«, sagte Beatrice. »Man malt sie seit bald zweitausend Jahren auf Ikonen.«
     
    Es wurde eine heiße Nacht. Heiß und schwül. Harry wälzte sich in seinem Himmelbett hin und her, warf die Decke zu Boden und zerrte die Laken unter der Matratze hervor, während er versuchte, die Gedanken fern zu halten und endlich zu schlafen. Einen Augenblick lang hatte er an die Minibar gedacht, doch dann war ihm eingefallen, dass er den Schlüssel dazu vom Schlüsselbund genommen und an der Rezeption zurückgelassen

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