Rotkehlchen
Chauffeur, Stadtführer und Übersetzer abgestellt hatte, stand miteinem dunklen Anzug, Sonnenbrille und Stiernacken in der Ankunftshalle. Er hielt ein Stück Pappe in den Händen, auf dem mit dickem schwarzem Stift Mr Hole geschrieben war.
Der Stiernacken stellte sich als »Fritz« vor (irgendeiner muss ja so heißen, dachte Harry) und führte Harry zu einem marineblauen BMW, der kurz darauf in Richtung Nordwesten über die Autobahn auf das Zentrum zuraste, vorbei an Fabrikschornsteinen, die weißen Rauch ausspuckten, und vorbildlichen Verkehrsteilnehmern, die brav auf die rechte Spur auswichen, wenn Fritz Gas gab.
»Sie haben ein Zimmer im Hotel der Spione«, sagte Fritz. »Hotel der Spione?«
»Das alte, ehrwürdige Imperial. Dort stiegen während des Kalten Krieges sowohl die russischen als auch die westlichen Agenten ab. Ihr Polizeichef muss reichlich Geld haben.«
Sie kamen zum Kärntner Ring und Fritz zeigte nach vorn.
»Das ist der Turm vom Stephansdom, da rechts über den Hausdächern«, sagte er. »Schön, nicht? Hier ist das Hotel. Ich warte hier, während Sie einchecken.«
Der Portier im Imperial lächelte, als er sah, wie sich Harry mit großen Augen in der Eingangshalle umsah.
»Wir haben hier für vierzig Millionen Schilling renoviert, damit es genauso aussieht wie vor dem Krieg. Das Hotel wurde bei den Bombenangriffen 1944 beinahe zerstört und war bis vor kurzem ziemlich heruntergekommen.«
Als Harry im dritten Stock aus dem Fahrstuhl trat, hatte er das Gefühl, über schwingenden Moorboden zu gehen, so dick und weich waren die Teppiche. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, hatte aber ein breites Himmelbett, das mindestens hundert Jahre alt zu sein schien. Als er das Fenster öffnete, roch er den Duft von frischen Backwaren aus der Konditorei auf der anderen Straßenseite.
»Helena Mayer wohnt in der Lazarettgasse«, unterrichtete ihn Fritz, als er sich wieder ins Auto setzte. Er hupte ein Auto an, das die Spur wechselte, ohne zu blinken.
»Sie ist Witwe und hat zwei erwachsene Kinder. Sie hat nach dem Krieg bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin gearbeitet.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Nein, aber ich habe ihre Akte gelesen.«
Die Wohnung in der L azar ettgasse lag in einem Gebäude, das frühervermutlich einmal vornehm gewesen war. Jetzt blätterte der Putz im Treppenaufgang von den Wänden und das Echo ihrer schlurfenden Schritte vermischte sich mit dem Tropfen von Wasser.
Helena Mayer wohnte in der vierten Etage. Sie stand lächelnd in der Tür. Mit lebhaften braunen Augen bat sie die Besucher, die vielen Treppen zu entschuldigen.
Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war leicht übermöbliert und voll mit all den Nippesfiguren, die sich in einem langen Leben ansammeln.
»Setzen Sie sich«, bat sie. »Ich werde deutsch mit Ihnen sprechen, aber Sie dürfen gerne englisch mit mir reden, verstehen tue ich das«, sagte sie an Harry gerichtet.
Sie holte ein Kuchentablett. »Strudel«, erklärte sie und deutete auf den Kuchen.
»Lecker«, sagte Fritz und bediente sich.
»Sie kannten also Gudbrand Johansen«, begann Harry.
»Ja, das heißt, wir nannten ihn Urias, er bestand darauf. Zuerst dachten wir, er sei geistig verwirrt, als Folge der Verletzungen.« »Was waren das für Verletzungen?«
»Kopfverletzungen. Und am Bein natürlich, Doktor Brockhard hätte es beinahe amputieren müssen.«
»Doch er wurde wieder gesund und im Sommer 1944 nach Oslo beordert, nicht wahr?«
»Ja, da hätte er hinsollen.«
»Wie meinen Sie das, hätte hinsollen?«
»Er verschwand. Jedenfalls tauchte er nicht in Oslo auf, oder?« »Nicht, soweit wir wissen, nein. Sagen Sie mir, wie gut kannten Sie Gudbrand Johansen?«
»Recht gut, er war ein extrovertierter Mensch und ein guter Erzähler. Ich glaube, alle Krankenschwestern haben sich der Reihe nach in ihn verliebt.«
»Sie auch?«
Sie lachte ein trillerndes, helles Lachen. »Ich auch, aber er wollte mich nicht.«
»Nein?«
»Oh, ich war hübsch, das kann ich Ihnen versichern – daran lag es nicht. Aber es gab eine andere Frau, die Urias haben wollte.«
»Ach ja?«
»Ja, sie hieß auch Helena.«
»Welche Helena war das?«
Die alte Frau runzelte die Stirn.
»Helena Lang, glaube ich. Dass sich die beiden so liebten, war ja der Grund für diese Tragödie.«
»Welche Tragödie?«
Sie sah verwundert von Harry zu Fritz und wieder zurück.
»Sind Sie denn nicht deshalb gekommen?«, fragte sie. »Wegen des
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