Rotkehlchen
Mordes?«
Schlosspark, 14. Mai 2000
86 Es war Sonntag. Die Menschen gingen langsamer als sonst, so dass der alte Mann auf dem Weg durch den Schlosspark mit ihnen Schritt halten konnte. Am Wachhäuschen blieb er stehen. Die Bäume hatten diese helle grüne Farbe, die er am liebsten mochte. Alle, bis auf einen. Die große Eiche in der Mitte des Parks würde nie mehr grüner werden, als sie es jetzt war. Man konnte den Unterschied bereits erkennen. Nachdem das Holz aus der Winterruhe erwacht war, hatte auch der lebenswichtige Saft im Stamm zu zirkulieren begonnen und das Gift im Adernetz verbreitet. Es war in jedes Blatt vorgedrungen und hatte ein hektisches Wachstum hervorgerufen. Im Laufe von ein oder zwei Wochen würden die Blätter vertrocknen, braun werden und abfallen, und zu guter Letzt würde der Baum sterben.
Doch sie hatten noch nichts begriffen. Sie begriffen vermutlich überhaupt nichts. Bernt Brandhaug war anfänglich kein Bestandteil seines Plans gewesen, und der Alte konnte verstehen, dass das Attentat die Polizei verwirrt hatte. Brandhaugs Äußerung im Dagbladet war nur wieder einer dieser merkwürdigen Zufälle gewesen, und er hatte laut gelacht, als er sie gelesen hatte. Mein Gott, er war sogar gleicher Meinung gewesen. Die Verlierer mussten hängen, das war das Gesetz des Krieges.
Doch was war mit all den anderen Spuren, die er ihnen hinterlassen hatte? Nicht einmal die Hinrichtung an der Festung Akershus hatten sie mit dem großen Verrat in Verbindung gebracht. Vielleichtwürde ihnen ein Licht aufgehen, wenn das nächste Mal die Kanonen auf der Wallanlage abgefeuert wurden.
Er hielt nach einer Bank Ausschau. Die Schmerzen kamen jetzt immer häufiger. Er musste nicht zu Buer gehen, um zu wissen, dass sich die Krankheit mittlerweile im ganzen Körper ausgebreitet hatte, das spürte er selbst. Es war nun bald so weit.
Er stützte sich an einen Baum. Die Königsbirke. Regierung und König waren nach England geflüchtet. »Deutsche Bomber über uns.« Das Gedicht von Nordahl Grieg verursachte ihm Übelkeit. Es stellte den königlichen Verrat als ehrenvollen Rückzug dar, als ob es eine moralische Handlung gewesen wäre, sein Volk in der Not zu verlassen. Und in der Londoner Sicherheit war der König nur eine dieser Exilmajestäten gewesen, die bei repräsentativen Essen anrührende Reden für sympathisierende Oberschichtfrauen hielten, während sie sich an die Hoffnung klammerten, dass ihr kleines Königreich sie eines Tages wiederhaben wollte. Und nachdem alles vorbei war, folgte der Empfang, als das Schiff mit dem Kronprinzen am Kai festmachte und sich all die Menschen, die herbeigelaufen waren, heiser schrien, um die Beschämung zu übertönen – ihre eigene und die über ihren König. Der Alte schloss die Augen und drehte den Kopf zur Sonne.
Kommandorufe, Stiefel und AG3-Gewehre knallten in den Kies. Abmeldung. Wachablösung.
Wien, 14. Mai 2000
87 »Das wussten Sie nicht?«, fragte Helena Mayer.
Sie schüttelten den Kopf, und Fritz hing bereits am Telefon, um jemanden ins Archiv zu schicken, der nach verjährten Mordfällen suchen sollte.
»Wir finden das ganz sicher«, flüsterte er. Harry zweifelte nicht daran.
»Die Polizei war sich also sicher, dass Gudbrand Johansen seinen eigenen Arzt tötete?«, fragte Harry, an die alte Dame gerichtet.
»Ja, ja. Christopher Brockhard wohnte alleine in einer Wohnung auf dem Krankenhausgelände. Die Polizei sagte, Johansen habe dasGlas der Eingangstüre eingeschlagen und ihn dann im Schlaf im Bett getötet.«
»Wie?«
Frau Mayer fuhr sich mit dem Zeigefinger dramatisch über die Kehle.
»Ich habe das später selbst gesehen«, sagte sie. »Man hätte meinen können, der Doktor hätte es selber gemacht, so sauber war der Schnitt.«
»Hm. Und warum war sich die Polizei so sicher, dass es Johansen war?«
Sie lachte.
»Das kann ich Ihnen sagen – weil Johansen den Pförtner gefragt hat, in welcher Wohnung Brockhard wohnte, und dann vor dem Haus geparkt hat und hineingegangen ist. Danach ist er schnell rausgelaufen, hat das Auto angelassen und ist mit Vollgas in Richtung Wien gefahren. Am nächsten Tag war er verschwunden, und niemand hatte eine Ahnung, wohin; nur, dass er sich drei Tage später in Oslo hätte melden sollen, wusste man. Die norwegische Polizei wartete auf ihn, aber dort ist er ja nie angekommen.«
»Wissen Sie noch, ob die Polizei außer dieser Zeugenaussage noch andere Beweise gefunden hat?«
»Ob ich das noch
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