Rotkehlchen
weiß? Dieser Mord war lange Zeit das Gesprächsthema Nummer eins! Das Blut auf dem Glas der Wohnungstür war Gudbrands Blut. Und die Polizei fand in Brockhards Schlafzimmer die gleichen Fingerabdrücke wie auf Urias’ Nachtschränkchen und seinem Bett im Hospital. Und dann gab es ja auch noch das Motiv …«
»Ja?«
»Sie liebten einander, Gudbrand und Helena. Doch Christopher sollte sie bekommen.«
»Waren sie verlobt?«
»Nein, nein, aber Christopher war verrückt nach Helena, das wussten alle. Helena stammte aus einer einstmals reichen Familie, die ruiniert war, nachdem ihr Vater ins Gefängnis musste. In die Familie Brockhard einzuheiraten war die einzige Möglichkeit für sie und ihre Mutter, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Und Sie wissen ja, wie das ist. Eine junge Frau hat gewisse Verpflichtungen ihrer Familie gegenüber. Auf jeden Fall war das früher so.«
»Wissen Sie, wo Helena Lang heute ist?«
»Aber Sie haben den Strudel ja nicht einmal angerührt«, unterbrach ihn die Witwe.
Harry nahm einen großen Bissen, kaute und nickte Frau Mayer aufmunternd zu.
»Nein«, sagte sie, »das weiß ich nicht. Als bekannt wurde, dass sie in der Mordnacht mit Johansen zusammen gewesen war, wurde auch gegen sie ermittelt. Doch man hat nichts gefunden. Sie gab ihre Arbeit im Hospital auf und zog nach Wien. Sie eröffnete eine eigene Schneiderei. Ja, sie war eine starke und tatkräftige Frau, ich hab sie hier auf der Straße hin und wieder gesehen. Sie war immer in Bewegung. Doch Mitte der fünfziger Jahre verkaufte sie den Laden und danach habe ich sie nie mehr gesehen. Einige sagen, sie sei ins Ausland gegangen. Aber ich weiß, wen Sie fragen können. Falls sie noch am Leben ist, natürlich: Beatrice Hoffmann. Sie war die Haushälterin der Familie Lang. Nach dem Mord konnte die Familie sie nicht mehr bezahlen und daraufhin arbeitete sie eine Zeit lang im Rudolph II. Hospital.«
Fritz hatte bereits zum Telefon gegriffen.
Am Fensterrahmen brummte eine verzweifelte Fliege. Sie folgte ihrem eigenen mikroskopischen Verstand und flog unablässig gegen die Scheibe. Harry stand auf.
»Noch etwas Strudel …?«
»Beim nächsten Mal, Frau Mayer. Jetzt haben wir leider wenig Zeit.«
»Warum?«, fragte sie. »Das ist doch vor mehr als einem halben Jahrhundert geschehen, das läuft Ihnen doch nicht weg.«
»Tja …«, sagte Harry, während er die schwarze Fliege in der Sonne unter der Spitzengardine betrachtete.
Fritz erhielt einen Anruf, während sie auf dem Weg ins Polizeipräsidium waren, und machte bald darauf eine höchst gesetzeswidrige Wendung, so dass die Autofahrer hinter ihnen wie wild hupten.
»Beatrice Hoffmann lebt noch«, verkündete er und beschleunigte an einer Ampelkreuzung. »Sie wohnt in einem Altersheim in der Mauerbachstraße. Das ist oben im Wienerwald.«
Der BMW-Turbo lief auf vollen Touren. Die großen Mietshäuser machten Fachwerkhäusern und Weingütern Platz, und schließlichkam der grüne Laubwald zum Vorschein. Die Nachmittagssonne spielte in den Blättern und ließ eine zauberhafte, beinahe mystische Stimmung entstehen, während sie über Buchen-und Kastanienalleen brausten.
Ein Krankenpfleger führte sie in den großen Garten.
Beatrice Hoffmann saß auf einer Bank im Schatten unter einer mächtigen knorrigen Eiche. Ein Strohhut umrahmte das kleine, faltige Gesicht. Fritz erklärte ihr den Grund ihres Kommens. Die alte Frau nickte und lächelte.
»Ich bin neunzig Jahre alt«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Aber ich muss noch immer weinen, wenn ich an Fräulein Helena denke.«
»Lebt sie noch?«, fragte Harry in seinem Schuldeutsch. »Wissen Sie, wo sie ist?«
»Was hat er gesagt?«, fragte sie, wobei sie eine Hand hinter das Ohr legte. Fritz wiederholte es.
»Ja«, sagte sie. »Ja, ich weiß, wo Helena ist. Sie sitzt da oben.« Sie deutete in die Baumkrone.
Das war’s, dachte Harry. Senil. Aber die Alte hatte noch nicht alles gesagt.
»Beim Heiligen Petrus ist sie. Gute Katholiken waren das, die Langs, doch Helena war der eigentliche Engel der Familie. Wie gesagt, ich muss immer weinen, wenn ich daran denke.«
»Erinnern Sie sich an Gudbrand Johansen?«, fragte Harry.
»Urias«, sagte Beatrice. »Ich bin ihm nur einmal begegnet. Ein hübscher, charmanter junger Mann, aber leider krank. Wer hätte geglaubt, dass ein derart höflicher, lieber Junge imstande sein würde zu töten? Die Gefühle haben sie überwältigt, ja, Helena auch, sie ist niemals darüber
Weitere Kostenlose Bücher