Rousseau's Bekenntnisse
sagen, ist für mich eine unleidliche Qual. Um nicht wie ein Wilder zu leben, nahm ich mir vor, nesteln zu lernen. Ich nahm bei meinen Besuchen mein Kissen mit oder setzte mich wie die Frauen mit meiner Arbeit an die Thür und plauderte mit den Vorübergehenden. Dies ließ mich die Leerheit des Geschwätzes ertragen und meine Zeit ohne Langeweile bei meinen Nachbarinnen zubringen, von denen mehrere ziemlich liebenswürdig und sogar nicht ohne Geist waren. Eine unter andern, Isabella von Ivernois, die Tochter des Generalprocurators von Neufchâtel, schieb mir hervorragend genug, um mit ihr ein ganz besonders freundschaftliches Verhältnis anzuknüpfen, das ihr wegen der guten Rathschläge, die ich ihr ertheilt, und wegen der Dienste, die ich ihr bei wahren Lebensfragen geleistet habe, sehr vortheilhaft gewesen ist. Jetzt eine würdige und tugendhafte Familienmutter, verdankt sie mir vielleicht die Klarheit ihres Verstandes, ihren Gatten, ihr Leben und ihr Glück. Ich meinerseits verdanke ihr sehr süße Tröstungen, namentlich während eines sehr trübseligen Winters, wo sie mitten in meinen Leiden und Schmerzen in Theresens und meiner Gesellschaft lange Abende bei uns zubrachte, die sie uns durch den Zauber ihres Geistes und durch unsere gegenseitigen Herzensergießungen sehr zu verkürzen verstand. Sie redete mich Papa und ich sie Tochter an, und diese Anreden, deren wir uns noch gegenseitig bedienen, werden ihr, wie ich hoffe, immerdar eben so theuer sein wie mir. Um meinen Nesteln irgend eine Verwendung zu geben, schenkte ich sie meinen jungen Freundinnen bei ihrer Verheirathung unter der Bedingung, daß sie ihre Kinder selbst stillen sollten. Ihre ältere Schwester bekam eine unter dieser Bedingung und hat sie erfüllt; Isabella bekam ebenfalls eine und hat sie durch ihre Gesinnung nicht weniger verdient; aber sie hat nicht das Glück gehabt, ihren Willen durchsetzen zu können. Bei der Übersendung dieser Nesteln schrieb ich an jede von beiden einen Brief, von denen der erste die Runde durch die Welt gemacht hat; dem zweiten wurde jedoch nicht soviel Aufsehen zu Theil: die Freundschaft tritt nicht so geräuschvoll auf.
Unter den Verbindungen, die ich in meiner Nachbarschaft anknüpfte und auf deren Schilderung im Einzelnen ich mich nicht einlassen will, muß ich die mit dem Obrist Pury anführen, der im Gebirge ein Haus besaß, in welchem er die Sommer zubrachte. Ich hatte keine sehr große Lust, seine Bekanntschaft zu machen, weil ich wußte, daß er bei Hofe und Mylord Marschall, den er nicht besuchte, sehr mißliebig war. Da er mich indessen besuchte und mir viele Artigkeiten erwies, mußte ich ihm einen Gegenbesuch abstatten. Die Bekanntschaft wurde fortgesetzt und wir aßen mitunter abwechselnd bei einander. Bei ihm machte ich die Bekanntschaft des Herrn Du Peyrou, die schließlich in eine zu innige Freundschaft überging, als daß ich ihn unerwähnt lassen könnte.
Herr Du Peyrou war ein Amerikaner, Sohn eines Commandanten von Surinam, dessen Nachfolger, Herr von Chambrier aus Neufchâtel, die Witwe heirathete. Zum zweiten Male verwitwet, ließ sie sich mit ihrem Sohne in der Heimat ihres zweiten Gatten nieder. Du Peyrou, der als einziger Sohn sehr reich war und von seiner Mutter zärtlich geliebt wurde, hatte eine ziemlich sorgfältige und auch recht erfolgreiche Erziehung erhalten. Er hatte sich viel Halbwissen angeeignet, verstand sich etwas auf die Künste und that sich namentlich etwas auf die Ausbildung seines Verstandes zu Gute; sein holländisches, kaltes und philosophisches Wesen, seine schwarzbraune Gesichtsfarbe, sein stilles und verstecktes Benehmen begünstigten diese Meinung sehr. Obgleich noch jung, war er taub und gichtleidend. Dies gab allen seinen Bewegungen etwas sehr Gesetztes und Ernstes, und obwohl er Wortgefechte liebte und sie bisweilen sogar ein wenig lange fortführte, sprach er im allgemeinen doch wenig, weil er eben nicht gut hörte. Dieses ganze Aeußere machte Eindruck auf mich. »Das ist ein Denker«, sagte ich mir, »ein Weiser, den man sich glücklich schätzen müßte als Freund zu besitzen.« Um mich vollends einzunehmen, richtete er oft das Wort an mich, ohne mir je eine besondere Höflichkeit zu sagen. Er sprach mit mir wenig über mich, wenig über meine Bücher und sehr wenig über sich. Er war nicht arm an Ideen, und alles, was er sagte, war ziemlich richtig. Dieses Richtige und dieses Gleichmäßige an ihm zogen mich an. Sein Geist hatte nicht den Schwung und die
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