Rousseau's Bekenntnisse
ihrem Genusse ein solches nicht vorfindet. Ich sehe die Sache, sie reizt mich; wenn ich nur das Mittel sehe, sie in meinen Besitz zu bringen, so reizt es mich nicht. Ich habe deshalb gestohlen, und stehle bisweilen noch Kleinigkeiten, die mich reizen, und die ich lieber nehme als erbitte. Aber ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben, weder in der Jugend noch in dem Mannesalter, jemandem einen Heller genommen zu haben, einen einzigen Fall vor noch nicht fünfzehn Jahren ausgenommen, wo ich sieben Livres und zehn Sous stahl. Dieser Vorfall verdient erzählt zu werden, denn es zeigt sich in ihm eine prächtige Mischung von Unverschämtheit und Dummheit, an welche ich selber kaum zu glauben vermöchte, handelte es sich um jemand anderes als um mich.
Es war in Paris. Ich ging gegen fünf Uhr mit Herrn von Francueil im Palais-Royal spazieren. Er zieht seine Uhr heraus, wirft einen Blick darauf und sagt zu mir: lassen Sie uns in die Oper gehen. Ich bin bereit: wir gehen. Er nimmt zwei Billete zum Amphitheater, giebt mir eines davon und geht mit dem andern vor mir her. Als ich nach ihm eintrete, finde ich die Thüre versperrt. Ich schaue hinein, ich sehe alle stehen; ich denke, ich würde mich in dieser Menge recht wohl verlieren oder wenigstens Herrn von Francueil auf den Wahn bringen können, daß ich mich darin verloren habe. Ich gehe hinaus, nehme meine Contremarke, dann das Geld zurück und mache mich aus dem Staube, ohne daran zu denken, daß sich, noch ehe ich die Thür erreicht, schon alle Welt gesetzt hatte, und Herr von Francueil nun augenscheinlich bemerkte, daß ich nicht mehr da war.
Da meiner Natur nie etwas ferner lag, als ein solcher Zug, so zeichne ich ihn auf, um den Beweis zu liefern, daß es Augenblicke von einer Art Wahnsinn giebt, in denen man über die Menschen nicht nach ihren Handlungen urteilen muß. Nicht gerade das Geld an sich, sondern die Benutzung desselben hatte ich stehlen wollen; je weniger es ein Diebstahl war, desto mehr war es eine Schändlichkeit.
Ich würde mit solchen Einzelheiten kein Ende finden, wollte ich all den Wegen nachgehen, auf denen ich während meiner Lehrlingszeit von der Erhabenheit des Heroismus bis zu der Gemeinheit eines Taugenichtses abwärts ging. Nahm ich indessen auch die Laster meines Standes an, so war es mir doch unmöglich, die Neigungen desselben völlig anzunehmen. Ich fühlte bei den Vergnügungen meiner Kameraden Langeweile, und als mir der allzu große Zwang auch noch Widerwillen gegen die Arbeit einflößte, langweilte mich alles. Das erweckte in mir wieder Lust zum Lesen, die ich seit langer Zeit verloren hatte. Dieses Lesen, auf das ich einen Theil meiner Arbeitszeit verwandte, wurde ein neues Verbrechen, das mir neue Züchtigungen zuzog. Dieser Hang, der sich durch den Reiz des Verbotes nur noch steigerte, wurde zur Leidenschaft, ja bald zur Wuth. Die Tribu, eine berühmte Verleiherin von Büchern, versorgte mich mit Werken von allerlei Art. Gute wie schlechte, alles kam an die Reihe; auf eine Auswahl ließ ich mich nicht erst ein, ich las alles mit gleicher Gier. Ich las am Werktische, ich las, wenn ich ging, meine Aufträge auszurichten, ich las auf dem Abtritte und vergaß mich ganze Stunden darin, der Kopf schwindelte mir vom Lesen, ich that nichts mehr als lesen. Mein Meister lauerte mir auf, ertappte mich, schlug mich, nahm mir meine Bücher. Wie viele Bände wurden zerrissen, verbrannt, zum Fenster hinausgeworfen! Wie viele Werke blieben bei der Tribu unvollständig! Als ich nichts mehr hatte, sie zu befriedigen, gab ich ihr meine Hemden, meine Halstücher, meine Kleidungsstücke; meine drei Sous wöchentliches Taschengeld erhielt sie regelmäßig.
So ist denn doch, wird man sagen, das Geld nöthig geworden. Allerdings, aber erst, als mir das Lesen alle Thätigkeit geraubt hatte. Mich meiner neuen Neigung völlig überlassend, that ich nichts weiter und wollte nichts weiter als lesen. Dies ist hier wieder eine meiner charakteristischen Eigenthümlichkeiten. Mitten aus einer gewohnten Lebensweise reißt mich ein Nichts heraus, verwandelt mich, fesselt mich, kurz versetzt mich in Leidenschaft; und dann ist alles vergessen; ich denke nur an den neuen Gegenstand, der mich beschäftigt. Das Herz klopfte mir vor Ungeduld, das Buch, das ich in der Tasche hatte, zu durchblättern; ich zog es heraus, sobald ich allein war, und dachte nicht mehr daran, das Arbeitszimmer meines Meisters zu durchsuchen. Ich kann mir sogar kaum denken, daß ich noch
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