Rousseau's Bekenntnisse
wäre, wie ich geglaubt hatte, und bald verwerthete ich meine Erfahrung so gut, daß nichts von allem, wonach mir gelüstete, vor mir sicher war, sobald ich es erreichen konnte. Ich erhielt bei meinem Herrn keineswegs schlechte Kost, und die Enthaltsamkeit wurde mir nur dann schwer, wenn ich sah, wie schlecht er sie beobachtete. Die Sitte, die jungen Leute vom Tische fortzuschicken, wenn das aufgetragen wird, was sie am meisten reizt, scheint mir ganz darauf angelegt, sie eben so leckerhaft wie diebisch zu machen. Ich wurde in kurzer Zeit beides, und für gewöhnlich befand ich mich dabei sehr wohl, zuweilen jedoch, wenn ich ertappt wurde, auch sehr übel.
Noch immer muß ich mit innerm Schauder und doch auch wieder mit Lachen an eine Apfeljagd denken, die mir theuer zu stehen kam. Die Aepfel lagen auf dem Boden einer Speisekammer, welche durch ein hoch angebrachtes Gitterfenster von der Küche aus Licht erhielt. Als ich mich eines Tages allein im Hause befand, stieg ich auf den Backtrog, um in dem Garten der Hesperiden diese köstliche Frucht zu betrachten, die mir unerreichbar war. Ich holte den Bratspieß, um zu sehen, ob er bis zu ihnen langte: er war zu kurz. Ich verlängerte ihn durch Anbinden eines andern, für kleines Wild bestimmten Spießes, denn mein Meister war ein Jagdliebhaber. Mehrere Male stach ich ohne Erfolg; endlich merkte ich mit Entzücken, daß ich einen Apfel aufgespießt hatte. Ich zog sehr bedächtig; schon berührte der Apfel das Fenster; ich stand auf dem Sprunge, ihn zu ergreifen. Wer aber vermag meinen Kummer zu schildern! Der Apfel war zu groß, er ging nicht durch das Gitter. Was erfand ich nicht alles, um ihn hindurchzuziehen! Ich mußte mir Stützen verschaffen, um den Bratspieß in seiner Lage zu erhalten, ein Messer, lang genug, um den Apfel zu zerschneiden, eine Latte, um ihn zu halten. Mit Geschicklichkeit und Zeit gelang es mir wirklich, ihn zu theilen, so daß ich hoffen konnte, die Stücke nun eines nach dem andern hindurchzuziehen; aber kaum waren sie getrennt, als sie auch schon beide in die Speisekammer hinabfielen. Mitleidiger Leser, theile meinen Kummer!
Ich verlor nicht den Muth; aber ich hatte viel Zeit verloren. In der Besorgnis überrascht zu werden, schiebe ich einen hoffentlich glücklicheren Versuch auf den folgenden Tag auf und setze mich wieder eben so ruhig an die Arbeit, als hätte ich nichts begangen, ohne an die beiden verrätherischen Zeugen zu denken, die in der Speisekammer gegen mich sprachen.
Da sich mir am nächsten Tage wieder eine günstige Gelegenheit darbot, mache ich einen neuen Versuch. Ich steige auf meine Bank, ich verlängere den Bratspieß, ich ziele; schon bin ich im Begriff hinunterzustechen ... Unglücklicherweise schlief der Drache nicht; plötzlich öffnet sich die Thür zur Speisekammer; mein Meister tritt heraus, kreuzt die Arme, blickt mich an und sagt: »Nur tapfer darauf los!« ... Die Feder entsinkt meinen Händen.
Da ich unaufhörlich Mißhandlungen zu erdulden hatte, wurde ich dafür bald weniger empfindlich; sie kamen mir zuletzt wie eine Art Ausgleichung für das Stehlen vor, die mir das Recht verlieh, es fortzusetzen. Anstatt rückwärts zu schauen und die Strafe ins Auge zu fassen, blickte ich voraus und dachte nur an Rache. Ich wähnte, die Schläge, die ich als Dieb erhielt, berechtigten mich, es zu sein. Ich hielt Stehlen und Gezüchtigtwerden für etwas zu einander Gehörendes und gewissermaßen ein Ganzes Bildendes, und meinte, erfüllte ich das dabei, was von mir abhing, so könnte ich die Sorge für das Uebrige meinem Meister überlassen. In dieser Anschauung verlegte ich mich ruhiger als zuvor auf das Stehlen. Ich sagte mir: Was kann schließlich davon die Folge sein? Ich werde geprügelt werden. Sei es! Das ist mir beschieden!
Ohne gierig zu sein, esse ich gern; ich bin lüstern, aber kein Leckermaul. Zu viel andere Neigungen ziehen mich von dieser ab. An meinen Gaumen habe ich immer nur gedacht, wenn mein Herz müßig war, und das ist mir in meinem Leben so selten begegnet, daß ich nicht viel Zeit gehabt habe, an gute Bissen zu denken. Deshalb beschränkte ich meine Diebstähle nicht lange auf Eßwaaren, sondern dehnte sie bald auf alles aus, was mich reizte; und wenn ich kein förmlicher Spitzbube wurde, so liegt der Grund darin, daß mich das Geld nie in große Versuchung geführt hat. In der gemeinsamen Werkstätte hatte mein Meister einen besonderen verschließbaren Raum für sich; ich fand das Mittel, die
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