Rubinrot
hertrugen.
Hinter der Häuserreihe tauchte man in eine ganz andere Welt. Vergessen war die hektische Betriebsamkeit von Strand und Fleet Street. Hier, zwischen den majestätischen, lückenlos aneinandergereihten, zeitlos schönen Gebäuden, herrschte plötzlich Ruhe und Frieden.
Ich zeigte auf die Touristen. »Was suchen die hier? Den hübschesten Brunnen der ganzen Stadt?«
»Sie werden sich die Temple-Church anschauen«, sagte meine Mutter, ohne auf meinen gereizten Tonfall zu reagieren. »Sehr alt, viele Legenden, viele Mythen. Die Japaner lieben das. Und in Middle Temple Hall wurde Shakespeares
Was ihr wollt
uraufgeführt.«
Wir folgten den Japanern eine Weile, dann bogen wir nach links ab und gingen auf einem gepflasterten Weg zwischen den Häusern um mehrere Ecken. Die Atmosphäre war beinahe ländlich, Vögel sangen, Bienen summten in den üppigen Blumenbeeten und selbst die Luft schmeckte frisch und unverbraucht.
An den Eingängen der Häuser waren Messingtafeln angebracht, in die lange Reihen von Namen eingraviert waren.
»Das sind alles Anwälte. Dozenten vom rechtswissenschaftlichen Institut«, sagte Mum. »Ich möchte nicht wissen, was so ein Büro hier an Miete kostet.«
»Ich auch nicht«, sagte ich beleidigt. Als gäbe es nichts Wichtigeres, worüber wir reden sollten!
Beim nächsten Eingang blieb sie stehen. »Hier wären wir«, sagte sie.
Es war ein schlichtes Haus, das trotz seiner tadellosen Fassade und der frisch gestrichenen Fensterrahmen sehr alt aussah. Meine Augen suchten die Namen auf dem Messingschild ab, aber Mum schob mich durch die offene Tür und dirigierte mich eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Zwei junge Frauen, die uns entgegenkamen, grüßten freundlich.
»Wo sind wir denn hier?«
Mum antwortete nicht. Sie drückte eine Klingel, zog ihren Blazer zurecht und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Keine Angst, Liebling«, sagte sie und ich wusste nicht, ob sie zu mir sprach oder mit sich selbst.
Die Tür öffnete sich mit einem Summen und wir traten in ein helles Zimmer, das wie ein ganz gewöhnliches Büro aussah. Aktenschränke, Schreibtisch, Telefon, Faxgerät, Computer . . . - nicht mal die blonde, mittelalte Frau hinter dem Schreibtisch sah ungewöhnlich aus. Nur ihre Brille war ein bisschen furchterregend, pechschwarz und so breitrandig, dass das halbe Gesicht dahinter verschwand.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie. »Oh, Sie sind das -Miss . . . Mrs Montrose?«
»Shepherd«, verbesserte Mum. »Ich habe meinen Mädchennamen nicht mehr. Ich habe geheiratet.«
»Oh, ja, natürlich.« Die Frau lächelte. »Aber Sie haben sich überhaupt nicht verändert. An Ihren Haaren würde ich Sie alle immer und überall wiedererkennen.« Ihr Blick streifte mich flüchtig. »Ist das etwa Ihre Tochter? Na, aber die kommt nach dem Vater, nicht wahr? Wie geht es . . .?«
Mum schnitt ihr das Wort ab. »Mrs Jenkins, ich muss dringend mit meiner Mutter und Mr de Villiers sprechen.«
»Oh, Ihre Mutter und Mr de Villiers sind in einer Besprechung, fürchte ich.« Mrs Jenkins lächelte bedauernd. »Haben Sie viel...«
Wieder fiel Mum ihr ins Wort. »Ich möchte bei dieser Besprechung dabei sein.«
»Also . . . das ... Sie wissen doch, dass das nicht möglich sein wird.«
»Dann machen Sie es möglich. Sagen Sie, ich bringe ihnen
Rubin.«
»Wie bitte? Aber...« Mrs Jenkins glotzte von Mum zu mir und wieder zurück.
»Machen Sie einfach, was ich Ihnen sage.« Noch nie hatte meine Mutter so bestimmt geklungen.
Mrs Jenkins stand auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Sie musterte mich von oben bis unten und ich fühlte mich in der hässlichen Schuluniform reichlich unwohl. Meine Haare waren nicht gewaschen, sondern einfach nur mit einem Gummi zum Pferdeschwanz gebunden. Und geschminkt war ich auch nicht. (War ich eigentlich selten.) »Sind Sie da sicher?«
»Natürlich bin ich sicher. Meinen Sie, ich erlaube mir damit einen dummen Scherz? Beeilen Sie sich bitte, die Zeit könnte knapp werden.«
»Bitte - warten Sie hier.« Mrs Jenkins drehte sich um und verschwand zwischen zwei Aktenregalen durch eine weitere Tür.
»Rubin?«,
wiederholte ich.
»Ja«, sagte Mum. »Jeder der zwölf Zeitreisenden ist einem Edelstein zugeordnet. Und du bist der Rubin.« »Woher weißt du das?«
»Opal und Bernstein das erste Paar, Achat singt in B, der Wolf-Avatar, Duett - Solutio! - mit Aquamarin. Es folgen machtvoll Smaragd und Citrin, die Zwillings-Karneole im Skorpion, und
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