Rubinrot
angefangen. Ich wollte es dir sagen, aber dann hatte ich Angst, dass du mir nicht glaubst.«
Meine Mutter schwieg.
»Mum?«
Ich sah Leslie an. »Sie glaubt mir nicht.« »Du stotterst ja auch nur wirres Zeug«, flüsterte Leslie. »Los, versuch's noch mal.« Aber das war gar nicht nötig.
»Bleib, wo du bist«, sagte meine Mutter mit ganz veränderter Stimme. »Warte am Schultor auf mich. Ich nehme ein Taxi und bin, so schnell ich kann, bei dir.«
»Aber . . .«
Mum hatte bereits aufgelegt.
»Du wirst Ärger mit Mr Whitman kriegen«, sagte ich.
»Mir egal«, sagte Leslie. »Ich warte, bis deine Mum da ist. Mach dir keine Gedanken um das Eichhörnchen. Das wickele ich um den kleinen Finger.«
»Was habe ich nur getan?«
»Das einzig Richtige«, versicherte mir Leslie. Ich hatte ihr so viel wie möglich von meinem kurzen Trip in die Vergangenheit berichtet. Leslie meinte, das Mädchen, das ausgesehen hatte wie ich, könnte eine meiner Vorfahrinnen gewesen sein.
Ich glaubte das nicht. Zwei Menschen konnten einander nicht so ähnlich sehen. Es sei denn, sie waren eineiige Zwillinge. Diese Theorie fand Leslie auch annehmbar.
»Ja! Wie in
Das Doppelte Lottchen«,
sagte sie. »Ich leihe uns bei Gelegenheit die DVD aus.«
Mir war zum Heulen zumute. Wann würden Leslie und ich uns noch mal gemütlich eine DVD anschauen können?
Das Taxi kam schneller, als ich gedacht hatte. Es hielt vor dem Schultor und meine Mum öffnete die Wagentür.
»Steig ein«, sagte sie.
Leslie drückte meine Hand. »Viel Glück. Ruf mich an, wenn du kannst.«
Ich hätte beinahe angefangen zu weinen. »Leslie . . .
danke!«
»Schon gut«, sagte Leslie, die ebenfalls mit den Tränen kämpfte. Auch bei Filmen weinten wir immer an denselben Stellen.
Ich kletterte zu Mum ins Taxi. Ich wäre ihr gern in die Arme gefallen, aber sie machte ein so seltsames Gesicht, dass ich davon Abstand nahm.
»Temple«, sagte sie zum Fahrer. Dann fuhr die Glasscheibe zwischen Fahrerkabine und Rückbank nach oben und das Taxi brauste los.
»Bist du böse auf mich?«, fragte ich.
»Nein. Natürlich nicht, Liebling. Du kannst doch nichts dafür.«
»Das stimmt! Dieser blöde Newton ist schuld ...«Ich versuchte es mit einem kleinen Scherz. Aber Mum war nicht zum Scherzen aufgelegt.
»Nein, der kann nichts dafür. Wenn überhaupt, dann ist es meine Schuld. Ich hatte gehofft, der Kelch würde an uns vorübergehen.«
Ich sah sie mit aufgerissenen Augen an. »Wie meinst du das?«
»Ich... dachte ... hoffte... ich wollte dich nicht...«Das Rumgestottere sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Sie wirkte angespannt und so ernst, wie ich sie nur erlebt hatte, als mein Dad gestorben war. »Ich wollte es nur nicht wahrhaben. Ich habe die ganze Zeit gehofft, dass Charlotte diejenige ist.«
»Das mussten doch alle glauben! Niemand käme auf die Idee, dass Newton sich verrechnet hat. Großmutter wird sicher ausrasten.«
Das Taxi fädelte sich in Piccadilly in den dichten Verkehr ein. »Deine Großmutter ist nicht wichtig«, sagte Mum. »Wann ist es das erste Mal passiert?« »Gestern! Auf dem Weg zu Selfridges.« »Um wie viel Uhr?«
»So um kurz nach drei. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also bin ich zurück zu unserem Haus und habe dort geklingelt. Aber bevor jemand aufmachen konnte, bin ich schon wieder zurückgesprungen. Das zweite Mal war heute Nacht. Ich habe mich im Schrank versteckt, aber da schlief jemand, ein Dienstbote. Ein ziemlich rabiater Dienstbote. Er hat mich durch das ganze Haus verfolgt und alle haben mich gesucht, weil sie mich für eine Diebin hielten. Gott sei Dank bin ich zurückgesprungen, bevor sie mich finden konnten. Und das dritte Mal war vorhin. In der Schule. Diesmal muss ich noch weiter zurückgesprungen sein, denn die Leute trugen Perücken ... - Mum! Wenn mir das jetzt alle paar Stunden passiert, werde ich doch niemals mehr ein normales Leben führen können! Und das nur, weil dieser Scheiß-Newton . . .« Ich merkte selber, dass sich der Scherz allmählich abnutzte.
»Du hättest es mir sofort sagen sollen!« Mum streichelte mir über den Kopf. »Dir hätte so viel passieren können!«
»Ich wollte es dir sagen, aber da hast du gesagt, dass wir alle nur zu viel Fantasie hätten.«
»Aber ich meinte doch nicht... Du warst kein bisschen darauf vorbereitet. Es tut mir so leid.«
»Das ist doch nicht deine Schuld, Mum! Das konnte doch keiner wissen.«
»Ich wusste es«, sagte Mum. Nach einer kleinen, unbehaglichen Pause
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