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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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Jade, Nummer acht, Digestion. In E-Dur: schwarzer Turmalin, Saphir in F, wie hell erschien. Und fast zugleich der Diamant, als elf und sieben, der Löwe erkannt. Projectio! Die Zeit ist im Fluss, Rubin bildet den Anfang und auch den Schluss.«
    Mum sah mich mit einem eher traurigen Lächeln an. »Ich kann's immer noch auswendig.«
    Ich hatte während ihres Vortrags aus irgendeinem Grund eine Gänsehaut bekommen. Es war mir weniger wie ein Gedicht vorgekommen, vielmehr wie eine Beschwörungsformel, etwas, das böse Hexen in Filmen murmeln, wenn sie in einem Topf voller grünlicher Dämpfe herumrühren.
    »Was soll das denn bedeuten?«
    »Ist nichts weiter als ein Schüttelreim, gedichtet von geheimnistuerischen alten Männern, um Kompliziertes noch komplizierter zu machen«, sagte Mum. »Zwölf Ziffern, zwölf Zeitreisende, zwölf Edelsteine, zwölf Tonarten, zwölf Aszendenten, zwölf Schritte zur Herstellung des Steins der Weisen . . .«
    »Stein der Weisen? Was soll...?«Ich brach ab und seufzte tief. Ich hatte es satt, immer nur Fragen zu stellen, die ich noch nicht einmal ganz zu Ende brachte, und mich dann mit jeder Antwort noch ein Stück unwissender und verwirrter zu fühlen.
    Mum schien sowieso keine Lust zu haben, meine Fragen zu beantworten. Sie sah aus dem Fenster. »Hier hat sich überhaupt nichts verändert. Es ist, als würde die Zeit stillstehen.«
    »Warst du schon oft hier?«
    »Mein Vater hat mich manchmal mitgenommen«, sagte Mum. »Er war da ein bisschen großzügiger als meine Mutter. Auch was die Geheimnisse angeht. Als Kind war ich sehr gern hier. Und später dann, als Lucy . . .« Sie seufzte.
    Ich kämpfte eine Weile mit mir, ob ich weiterfragen sollte oder nicht, dann siegte meine Neugier. »Großtante Maddy hat mir gesagt, dass Lucy auch eine Zeitreisende ist. Ist sie deshalb abgehauen?«
    »Ja«, sagte Mum.
    »Und wohin ist sie abgehauen?«
    »Das weiß niemand.« Mum strich sich wieder durch das Haar.
    Sie war offensichtlich aufgeregt, ich kannte sie gar nicht so nervös. Wenn ich selber nicht so aufgebracht gewesen wäre, hätte sie mir leidgetan.
    Eine Weile schwiegen wir. Mum sah wieder aus dem Fenster.
    »Ich bin also ein Rubin«, sagte ich dann. »Das sind die roten, oder?«
    Mum nickte.
    »Und was ist dann Charlotte für ein Stein?« »Gar keiner«, sagte meine Mum.
    »Mum, habe ich vielleicht eine Zwillingsschwester, von der du vergessen hast, mir zu erzählen?«
    Mum drehte sich zu mir um und lächelte. »Nein, hast du nicht, Liebling.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja, da bin ich ganz sicher. Ich war bei deiner Geburt dabei, vergessen?«
    Von irgendwoher waren Schritte zu hören, die schnell näherkamen. Mums Körperhaltung straffte sich und sie atmete tief ein. Zusammen mit der bebrillten Empfangsdame trat Tante Glenda durch die Tür und hinter ihr kam ein kleiner, älterer Mann mit Glatze in den Raum.
    Tante Glenda sah zornig aus. »Grace! Mrs Jenkins behauptet, du hättest gesagt. . .«
    »Es stimmt«, sagte Mum. »Und ich habe keine Lust, Gwendolyns Zeit damit zu vergeuden, ausgerechnet
dich
von der Wahrheit zu überzeugen. Ich will sofort zu Mr de Villiers. Gwendolyn muss in den Chronografen eingelesen werden.«
    »Aber das ist doch vollkommen - lächerlich!« Tante Glenda schrie beinahe. »Charlotte ist. . .«
    ». . . noch nicht gesprungen, oder?« Meine Mum wendete sich dem kleinen Dicken mit der Glatze zu. »Es tut mir leid, ich weiß, ich kenne Sie, aber ich kann mich nicht mehr an Ihren Namen erinnern.«
    »George«, sagte er. »Thomas George. Und Sie sind Lady Aristas jüngste Tochter, Grace. Ich erinnere mich gut an Sie.«
    »Mr George«, sagte Mum. »Natürlich. Sie haben uns nach Gwendolyns Geburt in Durham besucht, ich erinnere mich auch an Sie. Das hier ist Gwendolyn. Sie ist der Rubin, der Ihnen noch fehlt.«
    »Das ist unmöglich!«, sagte Tante Glenda schrill. »Das ist ganz und gar unmöglich! Gwendolyn hat das falsche Geburtsdatum. Sie ist ohnehin zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen. Ein unterentwickeltes Frühchen. Schauen Sie sie sich doch an.«
    Das tat Mr George bereits. Er musterte mich mit freundlichen blassblauen Augen. Ich versuchte so gelassen wie möglich zurückzuschauen und mein Unbehagen zu verbergen. Unterentwickeltes Frühchen! Tante Glenda hatte ja wohl nicht alle Tassen im Schrank! Ich war fast einen Meter siebzig groß und hatte Körbchengröße B mit einer lästigen Tendenz zu C.
    »Sie ist gestern das erste Mal gesprungen«, sagte Mum.

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