Rubinrot
setzte sie hinzu: »Du wurdest am gleichen Tag geboren wie Charlotte.«
»Nein, wurde ich nicht! Ich habe am achten Oktober Geburtstag, sie am siebten.«
»Du wurdest auch am siebten Oktober geboren, Gwendolyn.«
Ich konnte nicht glauben, dass sie das sagte. Ich konnte sie nur anstarren.
»Ich habe gelogen, was dein Geburtsdatum angeht«, fuhr Mum fort. »Es war nicht schwer. Du warst eine Hausgeburt und die Hebamme, die den Geburtsschein ausgestellt hat, hatte Verständnis für unseren Wunsch.«
»Aber
warum?«
»Es ging nur darum, dich zu beschützen, Liebling.« Ich verstand sie nicht. »Beschützen? Wovor denn? Jetzt ist es ja doch passiert.«
»Wir ... ich wollte, dass du eine normale Kindheit hast. Eine unbeschwerte Kindheit.« Mum sah mich eindringlich an. »Und es hätte ja sein können, dass du das Gen gar nicht geerbt hast.«
»Obwohl ich an dem von Newton ausgerechneten Termin geboren wurde?«
»Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt«, sagte Mum. »Und hör endlich mit Isaac Newton auf. Er ist nur einer von vielen, die sich damit beschäftigt haben. Diese Sache ist viel größer, als du es dir vorstellen kannst. Viel größer und viel älter und viel mächtiger. Und viel gefährlicher. Ich wollte dich da raushalten.«
»Woraus denn?«
Mum seufzte. »Es war dumm von mir. Ich hätte es besser wissen müssen. Bitte verzeih mir.« »Mum!« Meine Stimme überschlug sich fast. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du überhaupt sprichst.« Mit jedem ihrer Sätze waren meine Verwirrung und meine Verzweiflung ein Stückchen gewachsen. »Ich weiß nur, dass mit mir etwas passiert, das gar nicht passieren sollte. Und dass es
nervt!
Alle paar Stunden wird mir schwindelig und dann springe ich in eine andere Zeit. Ich habe keine Ahnung, was ich dagegen tun soll!«
»Deshalb fahren wir jetzt zu
ihnen«,
sagte Mum. Ich sah, dass ihr meine Verzweiflung wehtat, noch nie hatte ich sie so besorgt gesehen.
»Und
sie
sind . . .?«
»Die Wächter«, erwiderte meine Mutter. »Ein uralter Geheimbund, auch
die Loge des Grafen von Saint Germain
genannt.« Sie sah aus dem Fenster. »Wir sind gleich da.«
»Geheimbund!
Du willst mich zu so einer dubiosen Sekte bringen? Mum!«
»Es ist keine Sekte. Aber dubios sind sie allemal.« Mum atmete tief durch und schloss kurz die Augen. »Dein Großvater war Mitglied dieser Loge«, fuhr sie dann fort. »Und vor ihm sein Vater wie davor sein Großvater. Isaac Newton war ebenso Mitglied wie Wellington, Klaproth, von Arneth, Hahnemann, Karl von Hessen-Kassel, natürlich alle de Villiers und viele, viele mehr... Deine Großmutter behauptet, auch Churchill und Einstein wären Mitglieder der Loge gewesen.«
Mir sagten die meisten Namen überhaupt nichts. »Aber was
tun
sie?«
»Das ist.. . tja«, sagte Mum. »Sie beschäftigen sich mit uralten Mythen. Und mit der Zeit. Und mit Menschen wie dir.«
»Gibt es denn so viele von meiner Sorte?«
Mum schüttelte den Kopf. »Nur zwölf. Und die meisten davon sind schon lange tot.«
Das Taxi hielt und die Trennscheibe fuhr hinunter. Mum reichte dem Fahrer ein paar Pfundnoten. »Stimmt so«, sagte sie.
»Was wollen wir ausgerechnet hier?«, fragte ich, als wir auf dem Bürgersteig standen und das Taxi sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Wir waren den
Strand
entlanggefahren, bis kurz vor den Übergang zur Fleet Street. Um uns herum brauste der städtische Verkehr, Menschenmassen schoben sich die Bürgersteige entlang. Die Cafes und Restaurants gegenüber waren zum Bersten voll, am Straßenrand standen zwei rote Doppeldecker-Sightseeing-Busse und die Touristen im offenen Oberdeck fotografierten den monumentalen Gebäudekomplex des Royal Court of Justice.
»Da schräg gegenüber zwischen den Häusern geht es hinein in den Temple-Bezirk.« Mum strich mir die Haare aus dem Gesicht.
Ich sah auf den schmalen Fußgängerdurchgang, auf den sie zeigte. Ich konnte mich nicht entsinnen, dort einmal entlanggegangen zu sein.
Mum musste mein verwirrtes Gesicht bemerkt haben. »Warst du nie mit der Schule in Temple?«, fragte sie. »Die Kirche und die Gärten sind sehr sehenswert. Und Fountain's Court. Für mich der hübscheste Brunnen in der ganzen Stadt.«
Ich starrte sie wütend an. War sie jetzt plötzlich zur Stadtführerin mutiert?
»Komm, wir müssen auf die andere Straßenseite«, sagte sie und griff nach meiner Hand. Wir folgten einer Touristengruppe, lauter Japaner, die allesamt riesige Stadtpläne aufgefaltet vor sich
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