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Rubinrotes Herz, eisblaue See

Rubinrotes Herz, eisblaue See

Titel: Rubinrotes Herz, eisblaue See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Morgan Callahan Rogers
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Teewasser aufsetzen konnte, wanderten Daddys wodkagetränkte Gedanken schon in eine andere Richtung, und er beschloss, wir müssten sofort nach Hause gehen. Also überquerten wir die Straße, und ich musste ihn dabei stützen. Dann ging ich ins Bett, um noch ein bisschen zu weinen und mit Carlie zu reden, bevor ich einschlief. Um Mitternacht telefonierte Daddy mal wieder mit Parker.
    Noch in derselben Nacht erschien Pastor Billy Krum bei uns. Ich wachte von seinem Klopfen auf. »Ich bin’s, Billy«, rief er durch die Haustür. »Lass mich rein, verdammt noch mal.«
    Pastor Billy leitete die kleine Kirche oben an der Straße. Sonntags predigte er, an den übrigen Tagen fing er draußen vor Spruce Point Hummer. Er und Daddy waren zusammen zur Schule gegangen. Daddy ging nie in die Kirche, aber er und Billy spielten zusammen Poker.
    »Ich denk ja gar nicht dran«, brüllte Daddy, aber ich sprang auf und lief in den Flur. Ich starrte Billy an, der draußen vor der Tür stand wie ein nächtlicher Engel.
    Er lächelte und sah mich aus seinen hellblauen Augen freundlich an. »Lässt du mich rein, Florine?«
    Das tat ich, und Billy schickte mich wieder ins Bett. Ich lag da, während er zuhörte, wie Daddy Sätze hervorwürgte, die nur der Teufel von sich geben konnte, ohne sich zu schämen. Er wimmerte und sagte Sachen wie: »Was hab ich getan, um sie davonzujagen? Warum hat sie mich verlassen? Ich bin schuld. Ich hätte sie besser behandeln sollen. Dieses verfluchte Miststück. Soll sie doch zur Hölle fahren. Was hat sie sich bloß dabei gedacht?« Wenn Billy etwas sagte, sprach er so leise, dass nichts zu verstehen war. Doch die meiste Zeit ließ er Daddy reden, und irgendwie schafften sie es gemeinsam, den Teufel für den Rest der Nacht zu bezwingen. Gegen vier Uhr morgens schlief ich endlich ein.
    Zwei Stunden später weckte Billy mich, weil ich zur Schule musste. Das war schon die zweite Nacht hintereinander, in der ich kaum geschlafen hatte. Aber ich wagte es nicht, mich mit Gottes Boten anzulegen. Er gab mir ein Lunchpaket, das Grand für mich vorbereitet und ihm in die Hand gedrückt hatte.
    Bevor ich das Haus verließ, beugte Billy sich zu mir herunter - er war genauso groß wie Daddy - und sagte mit einer Stimme aus Schotter und Honig: »Florine, du bist einer von Gottes Engeln, direkt aus dem Himmel. Und Gott gibt seinen Engeln nichts, womit sie nicht zurechtkommen.«
    Das beschäftigte mich, während ich zur Bushaltestelle ging. Wenn ich ein Engel war, warum konnte ich dann nicht fliegen und meine Mutter finden? Und wo zum Teufel war der Himmel überhaupt? Die Gedanken flatterten durch meinen Kopf wie Motten auf der Suche nach Licht. Ich wollte Dottie, Bud und Glen nicht sehen. Ich wollte Rose nicht sehen. Ich wollte überhaupt niemanden sehen. Der Bus wartete schon an der Haltestelle, als ich dort ankam. Ich setzte mich allein auf einen Sitz im mittleren Teil. Als Rose’ Haltestelle kam und sie einstieg, erblickte sie mich und winkte. Ich rutschte tiefer in den Sitz, doch sie setzte sich trotzdem neben mich. »Streck die Hand aus«, sagte sie. »Das hier hab ich gefunden. Ist für dich.« Sie legte einen herzförmigen, rosafarbenen Stein auf meine Handfläche.

12
     
    Später an dem Tag, als Rose und ich uns mit ihren Matheübungen plagten, ertönte die tiefe Stimme des Direktors aus dem Lautsprecher, die befahl, sofort zu unserer Klasse zurückzukehren.
    Im Klassenzimmer herrschte Totenstille. Alle sahen Mrs. Richmond an. Sie stand vor ihrem Pult, und ihr Gesicht war ernster, als ich es je erlebt hatte. »Florine, Rose, setzt euch«, sagte sie, und wir gehorchten. Dann wandte sie sich an die Klasse. »Ich habe sehr schlechte Nachrichten. Heute Morgen hat jemand in Dallas, Texas, auf Präsident Kennedy geschossen. Ich muss euch leider mitteilen, dass er eben gestorben ist.« Sie zog ein Taschentuch aus der Jacke ihres Freitagskostüms, nahm die Brille ab und wischte sich über die Augen.
    Wenigstens wissen sie, was mit ihm passiert ist, dachte ich. Dann hatte ich ein schlechtes Gewissen. Rose drehte sich zu mir um und flüsterte: »Mein Poppy hat gesagt, die Russen würden ihn töten, und das haben sie getan. Meinst du, sie werfen Bomben auf uns, jetzt, wo er tot ist? Poppy sagt, sie hassen uns.«
    »Ich weiß nicht.«
    »Die Busse werden gleich da sein und euch nach Hause bringen«, sagte Mrs. Richmond. »Ich nehme an, die Schule wird für ein paar Tage schließen. Wir sagen euren Eltern aber noch

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