So nicht, Europa!
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Der Geruch von Brüssel
In Europa gibt es nur kleine Länder. Einige wissen es bloß noch nicht.
Paul-Henri Spaak (1899 – 1972), ehemaliger belgischer Außenminister
Wir stehen am Anfang eines kontinuierlichen Reformprozesses, der die Welt von morgen nachhaltiger zu formen vermag als die
außerhalb der westlichen Hemisphäre so verbreiteten revolutionären Vorstellungen.
Jean Monnet (1888 – 1979), erster Präsident der Hohen Behörde der Montanunion
Als am 25. März 1957 in Rom die sechs Gründungsstaaten Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande
den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unterschrieben, hatten sie Großes im Sinn. »Eu ropa «, hielt der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak fest, »das früher einmal die Industriegüterproduktion beherrschte und
bedeutende Ressourcen aus seinen überseeischen Gebieten bezog, muss heute erkennen, dass seine Position in der Welt geschwächt
ist, sein Einfluss abnimmt und seine Entwicklungsfähigkeit durch seine Uneinigkeit verloren gegangen ist.« Seitdem ist mehr
als ein halbes Jahrhundert vergangen, diese Worte aber scheinen heute noch genauso wahr wie damals. Liegt das nur an der Konstante
nationaler Egoismen, oder hat diese Tatsache etwas mit der Natur der EU zu tun? Brüssel, um mit dem Nervenzentrum der Union
zu beginnen, kann sein Problem nicht verhehlen: Es ist überfordert mit seiner Rolle, Hauptstadt sein zu müssen für ein Imperium,
das keines sein will.
Der Geruch von Brüssel ist einer von Beton und Champagner. Brüssel ist Baustelle und Empfangshalle. Bis zum Sonnenuntergang
grollen die Bagger und Schaufellader durch das E U-Viertel . Danach klirren die Gläser. Die Gebäudelandschaft rund um die Hauptquartiere von Kommission und Rat erinnert an einen ausgekippten
Legokarton, und was diesem Behördenhaufen tagsüber an Außenwirkung fehlt, kompensieren seine Bewohner abends mit Selbstbespiegelung.
Der Kreisverkehr am westlichen Rand Brüssels, benannt nach dem ehemaligen französischen Außenminister und Vater der Montanunion,
Robert Schuman, ist der Angelpunkt des verwalteten Europa. Auf der einen Seite erstreckt sich das geschwungene, x-förmige
Berlaymont-Gebäude, der flaggenumstellte Sitz der Europäischen Kommission. Auf der anderen Seite thront der Steinquader des
Europäischen Rates, wo die Vertreter der E U-Mitglied staaten tagen. Durchschnitten wird die Machtzentrale Europas von einer vierspurigen Stadtautobahn. Endlos erstrecken sich zu beiden
Seiten der verstopften Fahrbahnen die Fassaden grauer, verspiegelter Bürogebäude. Dazwischen gähnen halb abgerissene Zweckbauten
die Passanten an.
Seit sich die Europäische Union in zwei Schritten in den Jahren 2004 und 2007 von 15 auf 27 Mitgliedsländer erweitert hat, platzt das Europaviertel aus allen Nähten. In den nächsten Jahrzehnten soll es vor allem höher
werden. Die Architekten versprechen, das neue E U-Viertel werde »sich dem Himmel öffnen«, seine Wolkenkratzer würden »den Urbanismus neu definieren« und »zu Europa, zur Welt sprechen«.
Bis auf Weiteres sieht es entlang der Zentralachse Rue de la Loi, der Straße des Gesetzes, aus, als tobe ein Häuserkampf.
Washington, Paris, Berlin oder Moskau besitzen Regierungsviertel, die Machtansprüche, Geschichte und Stolz ausstrahlen. Brüssel
besitzt ein Normenfabrikgelände. Vier Quadratkilometer groß, unübersichtlich, konzeptlos. Der Fachbegriff »Bruxellisation«
steht in der Architektur mittlerweile für undurchdachte, übers Knie gebrochene Neuschöpfung von Stadtteilen.
Ganz unscheinbar, neben dem Eingang zum Ratsgebäude, in dem die Staatschefs, Minister und Diplomaten zu regelmäßigen Treffen
zusammenkommen, erinnert ein Standbild an den Mythos, dem der Kontinent seinen Namen verdankt. Europa, die phönizische Königstochter,
reitet auf einem Stier übers Meer. Gottvater Zeus hat sich in das kraftvolle Tier verwandelt, um die Schöne aus Sidon nach
Kreta zu entführen und zu seiner Geliebten zu machen. Leidenschaft oder Stärke strahlt die Skulptur an der Place Schuman allerdings
nicht aus. Europa und ihr Stier sind aus dünnen Drähten zusammengeschweißt, Metallplättchen geben ihren Gerippen eine zerrupfte
Struktur. Die Statue wirkt mehr wie eine halbherzige Reminiszenz aus billigem Schrott denn wie ein stolzer Verweis auf die
Namenspatronin. Europa
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