Rudernde Hunde
für die vielen Selbstabholer. Eine Blutspur führte quer über den Hof zum Verkaufsstand. Viele Menschen kamen mir entgegen. Die einen trugen ihr lebendes Huhn im Käfig davon, andere in Kartons oder in eine Wolldecke gewickelt. Manche kämpften einen verbissenen Kampf gegen das flatternde Huhn, hielten es mit energischem Griff an den Beinen fest, den Kopf nach unten, und ließen es zappeln.
Einige hielten das tote Huhn weit von sich, denn aus dem Hals tropfte Blut. Mir wurde flau, und ich wollte schon umkehren, doch ich war dran. Norbert Blüm als Bauer stand hinter einer Verkaufstheke, strahlte mich an.
»Einmal?« fragte er.
»Ja«, sagte ich.
Er griff hinter sich, wo Hunderte von gleich aussehenden Hühnern auf engem Raum herumgackerten, schnappte sich eines und hielt es mir, die beiden dünnen Beine in einer Faust zusammengedrückt, hin. Es zappelte und flatterte furchtbar, er mußte es sehr fest halten. Ich schaute es verzagt an, was Norbert Blüm falsch verstand.
»Die sind alle gleich«, sagte er.
»Jaja«, sagte ich.
»Eines wie das andere!« rief er, sich gebärdend wie ein Marktschreier.
»Bitte schlachten Sie es mir.«
»Für fünf Mark schlachte ich nicht auch noch.«
»Aber so kann ich es nicht mitnehmen«, sagte ich.
»Sie können es selbst schlachten, da hinten steht ein Hackstock!«
Ich schaute in die gezeigte Richtung und sah einen blutüberströmten Hackstock mit einem Beil. Der Boden davor war übersät von blutigen Hühnerköpfen. Ich zögerte, und Blüm wurde leicht ungeduldig: was denn nun? Ich schaute wieder das Huhn an, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Augen. Ich sah Angst und Verzweiflung, und es war um mich geschehen. Nur eines, ein einziges dieser Tiere hier aus der Menge der Geschundenen freikaufen, ihm die Freiheit geben, Gnadenkörner, was auch immer. Ich zahlte fünf Mark, nahm das Huhn, hielt es, um ihm nicht weh zu tun, denkbar ungeschickt fest und machte mich auf den Weg zum Parkplatz. Das Huhn wehrte sich, pickte frech nach meinen Armen, flatterte, benahm sich seinem Retter gegenüber so undankbar, daß ich beschloß, von der Befreiungsaktion Abstand zu nehmen. Ich werde Karlheinz anrufen, der wird es mir schlachten, der kann das, der kommt vom Bauernhof und macht sich ohnehin immer lustig über uns, die wir Fleisch essen, aber beim Schlachten nicht einmal zusehen können. Oder ich bringe es zu Serdar, meinem türkischen Freund.
Dann wird es geschächtet.
Im Wagen drehte das Huhn schier durch. Es flatterte gegen die Scheiben, röchelte, wollte raus, flatterte von vorne nach hinten und zurück, ermüdete schließlich aber, setzte sich auf den Beifahrersitz und starrte mich an. Ich merkte das. Jetzt nicht hinschauen, nicht wieder diese Augen!
Ich schaute hin. Dazu muß ich sagen, daß mein ab und zu aufkommendes Umweltbewußtsein nur sentimentalen Ursprungs ist und nie lange anhält. Immer wenn ich ein kleines zartes Lämmchen auf einer Wiese streichle, beschließe ich unverzüglich, Vegetarier zu werden, und wenn ich im Fernsehen diese furchtbaren Filme über Tiertransporte sehe, weiß ich: nie wieder Currywurst! Von der BSE-Angst gar nicht zu sprechen.
Es sah nett aus, das Huhn. Es legte den Kopf schief, verdrehte den Hals so, daß es mich mit beiden Augen ansehen konnte, als wollte es mich fragen: »Wie heißt du?«
»Ich heiße Robert«, sagte ich.
Und mir war, als würde es zufrieden nicken.
Scheiße, wir kamen in einen Stau. Gott, wie lange wird das dauern, wie lange wird das Huhn ruhig bleiben? Hoffentlich hat Karlheinz Zeit, oder Serdar, denn was soll ich mit einem Huhn in der Wohnung? Ich könnte auf dem Küchenbalkon einen kleinen Käfig bauen. Nein, ich verwarf den Plan. So ein Huhn hat ein Recht auf Auslauf, auf genügend Platz, auf Erdboden und Freiheit, Landluft und Gesellschaft, oder eben auf den Gnadentod.
Jetzt pickte es interessiert an der Klappe des Handschuhfachs herum. Es entstand fast ein Rhythmus. Chickenrock, dachte ich, in den siebziger Jahren von der Band Guru-guru gespielt. Wie seidig seine Federn sind! Ich langte hinüber, streichelte es ganz behutsam. Es duckte sich zunächst ängstlich nieder, doch dann reckte es sich wohlig, drückte seinen warmen kleinen Kopf in meine Hand.
Man muß es ja nicht nur schlachten, ihm also den Kopf abschlagen, durchfuhr es mich, man muß es ja auch rupfen. Ich glaube, man steckt es in heißes Wasser und reißt ihm dann die Federn aus. Karlheinz wird es wissen und machen, er hat
Weitere Kostenlose Bücher