Rueckkehr ins Leben
lagen, sahen wir, dass der Wagen-insasse unbewaffnet war. Als wir und die anderen aus den
Büschen krochen, beobachteten wir, wie ein Mann von der
Fahrerseite zum Straßenrand rannte und Blut spuckte. Sein Arm blutete. Als er aufhörte zu spucken, fing er an zu weinen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen erwachsenen Mann wie ein Kind weinen sah, und das gab
mir einen Stich ins Herz. Eine Frau legte ihre Arme um den Mann und flehte ihn an aufzustehen. Er richtete sich auf und ging auf den Transporter zu. Als er die Beifahrertür öffnete, fiel eine Frau, die innen dagegengelehnt hatte, zu Boden.
Blut lief ihr aus den Ohren. Die Leute hielten den Kindern die Hände vor die Augen.
Hinten im Wagen lagen drei weitere Leichen, zwei Mäd-
chen und ein Junge, deren Blut überall auf den Sitzen und an der Decke des Wageninneren verspritzt war. Ich wollte
vor dem Anblick fliehen, aber ich konnte nicht. Meine Fü-
ße waren wie taub und mein ganzer Körper war erstarrt.
Später erfuhren wir, dass der Mann mit seiner Familie zu
fliehen versucht hatte, dass aber die Rebellen auf sein Fahrzeug geschossen und seine ganze Familie getötet hatten.
Einzig die Frau konnte ihn zumindest ein paar Sekunden
lang trösten, indem sie ihn umarmte, mit ihm weinte und
ihm sagte, er habe wenigstens die Möglichkeit, seine Familie zu begraben. Er würde immer wissen, wo sie ruhten, sagte
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sie. Sie schien ein bisschen mehr über den Krieg zu wissen als wir anderen.
Der Wind hatte sich gelegt und das Tageslicht wich rasch
der Nacht. Als es auf Sonnenuntergang zuging, zogen mehr
Menschen durch das Dorf. Ein Mann trug seinen toten Sohn.
Er dachte, der Junge wäre noch am Leben. Der Vater war
vom Blut seines Sohns überströmt und sagte immer wieder
im Laufen: »Ich bringe dich ins Krankenhaus, mein Junge,
dann wird alles gut.« Vielleicht musste er sich an diese falsche Hoffnung klammern, um dadurch dem Unheil davonzulaufen. Eine Gruppe von Männern und Frauen, die von verirr-
ten Kugeln getroffen worden waren, kam als nächstes ange-
laufen. Die Haut, die ihnen vom Körper hing, war noch voll frischem Blut. Einige von ihnen hatten nicht einmal gemerkt, dass sie verwundet waren, bis sie haltmachten und andere
Leute auf ihre Wunden zeigten. Einige fielen in Ohnmacht
oder übergaben sich. Mir war schlecht, in meinem Kopf
drehte sich alles. Ich spürte, wie der Boden unter mir
schwankte, und plötzlich schienen die Stimmen der Men-
schen weit entfernt von dem Ort zu sein, an dem ich zitternd stand.
Die letzte Verwundete, die wir an jenem Abend sahen,
war eine Frau, die ihr Baby auf dem Rücken trug. Blut lief über ihr Kleid und hinterließ eine Spur auf dem Boden. Ihr Kind war erschossen worden, als sie um ihr Leben gerannt
war. Sie hatte lediglich deshalb überlebt, weil der Körper ihres Babys die Kugel abgefangen hatte. Als sie in unserer Nähe stehen blieb, setzte sie sich auf den Boden und nahm ihr Kind herunter. Es war ein Mädchen, seine Augen standen noch
offen, der Schuss hatte es lächelnd erwischt. Man sah die Kugeln, die ein klein wenig aus dem Körper des Babys heraus-ragten; der Körper war angeschwollen. Die Mutter klammer-
te sich an ihr Kind und wiegte es. Der Schmerz und der
Schock waren zu groß, als dass sie Tränen hätte vergießen können.
Junior, Talloi und ich sahen uns gegenseitig an und wuss-
ten, dass wir nach Mattru Jong zurückkehren mussten, denn wir hatten gesehen, dass Mogbwemo nicht mehr unser Zu-17
hause war und unsere Eltern unmöglich noch dort sein konnten. Einige der Verwundeten sagten immer wieder, Kabati
stünde als nächstes auf der Liste der Rebellen. Wir wollten nicht dort sein, wenn die Rebellen eintrafen. Selbst wer nicht gut zu Fuß war, gab sein Bestes, um aus Kabati wegzukom-men. Das Bild von der Frau und ihrem Baby verfolgte mich
auf unserem Weg zurück nach Mattru Jong. Ich bekam kaum
etwas mit, und wenn ich Wasser trank, verspürte ich keinerlei Erleichterung, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich Durst hatte. Ich wollte nicht dorthin zurück, wo die Frau herkam.
In den Augen des Babys war deutlich zu sehen gewesen, dass dort alles verloren war.
»Du warst minus 19«, sagte mein Vater immer, wenn ich
ihn fragte, wie das Leben in Sierra Leone 1961 nach der
Unabhängigkeit war. Das Land war seit 1808 britische Kolonie gewesen. Sir Milton Margai war der erste Premierminister und regierte bis zu seinem Tod 1964 im Auftrag der Sierra Leone
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