Rueckkehr nach River's End
und Zweck der Baumschicht schilderte.
Ihre Vorträge waren nie gleich. Olivia verstand sich darauf, eine Gruppe einzuschätzen und entsprechend zu reagieren. Sie ging weiter und wies auf die tiefen Kerben in der Rinde der Douglastanne hin, den sanften lilafarbenen Hauch auf den Hemlockzapfen.
Es amüsierte sie immer wieder, daß ihre Schützlinge leiser sprachen, sobald sie tiefer in den Wald kamen, wo das Licht dunkler wurde und grün schimmerte. Als ob sie eine Kirche betraten.
Während sie weitersprach, folgte sie einer vertrauten Angewohnheit und musterte die Gesichter, um festzustellen, wer ihr wirklich zuhörte, oder wer einfach nur mitgekommen war, weil Eltern oder Ehepartner darauf bestanden hatten. Zu diesen Besuchern sprach sie besonders gern, hoffte, etwas zu finden, das sie faszinierte, damit sie, wenn sie später wieder ins Licht traten, etwas von ihrer Welt mitnehmen konnten.
Ein Mann fiel ihr auf. Er war groß, hatte breite Schultern und einen frischen Sonnenbrand im Gesicht. Er trug einen Hut, ein Hemd mit langen Ärmeln und Jeans, die so neu waren, daß sie fast von allein standen. Trotz des dämmerigen Lichts hatte er die Sonnenbrille aufbehalten. Durch die dunklen Gläser konnte sie seine Augen nicht sehen, aber sie spürte, daß er sie ansah. Und daß er ihr zuhörte.
Sie lächelte ihm zu, eine automatische Reaktion auf sein Interesse. Ihr Blick war bereits weitergewandert, als er zusammenzuckte.
In der Gruppe befand sich ein begeisterter Amateurfotograf, der vor einem Stück Totholz hockte, die Linse dicht an einem Pilz. Sie nutze sein Interesse als Aufhänger, identifizierte den Pilz als Austernpilz und sprach einige Sätze darüber.
Dann ging sie weiter, zeigte auf einen weiteren Pilz, einen Ring aus wunderschönen weißen Hauben. »Die hier nennt man Zerstörerische Engel. Sie sind selten, aber extrem giftig.«
»Obwohl sie so schön aussehen?«
»Schönheit ist oft tödlich.«
Unvermittelt musterte Olivia den Mann mit der Sonnenbrille genauer. Er war nähergekommen, und während die meisten Besucher sich nach anderen Pilzgruppen umsahen und plauderten, stand er still und schweigsam da, als ob er auf etwas wartete.
»Wer ohne Führer wandern oder in der Gegend zelten will, sollte besonders vorsichtig sein. Auch wenn die Natur noch so schön ist, sie hat ihre eigenen Verteidigungssysteme. Glauben Sie nicht, daß ein Pilz oder eine Beere essbar ist, nur weil ein Tier daran geknabbert hat. Es ist klüger, sie einfach nur anzusehen.«
Plötzlich schnürte ihr Herz sich zu, so daß sie mit ihrem Handballen zwischen ihren Brüsten auf und ab reiben wollte, um die Spannung zu lockern. Sie kannte dieses Gefühl - die ersten Anzeichen für einen Panikanfall.
Dumm, sagte sie sich und atmete ein paarmal tief durch, während sie die Gruppe auf einem gewundenen Pfad um Totholz und Farne herumführte. Sie war völlig sicher. Hier gab es nichts außer dem Wald, mit dem sie bestens vertraut war, und einer Handvoll Touristen.
Der Mann hatte sich noch näher an sie herangeschoben, so nah, daß sie den Schweiß auf seinem Gesicht glänzen sah. Inzwischen war ihr kalt und irgendwie übel.
»Die kühle Feuchtigkeit...« Warum schwitzte er eigentlich, fragte sie sich. »Die kühle Feuchtigkeit im Olympic-Regenwald bietet den perfekten Lebensraum für die reichhaltige Flora, die Sie hier überall sehen. Hier findet sich das weltweit größte Vorkommen lebendiger Materie pro Hektar. All die Farne, Moose und Flechten leben hier als Epiphythen. Das bedeutet, daß sie ihr Dasein auf einer anderen Pflanze fristen, sei es im Oberholz des Waldes, an den Stämmen lebender Bäume oder auf den Überresten eines toten.«
Das Bild ihrer Mutter blitzte vor ihren Augen auf. »Während viele dieser Pflanzen auch in anderen Gegenden vorkommen, reifen einige Spezies nur in diesem Gebiet zu ihrer vollen Pracht heran. Hier an der Westseite der Olympic Mountains, in den Ho-, Quinault- und Queets-Tälern, finden sie die optimale Mischung aus Nahrung, milden Temperaturen und idealen topographischen Gegebenheiten, die dieser temperierte Regenwald benötigt.«
Die Routine ihres Vortrags beruhigte sie, die Kommentare und Fragen lenkten sie ab.
Der Ruf eines Adlers ließ alle nach oben blicken. Obwohl das dichte Oberholz den Himmel verdeckte, nutzte Olivia den Augenblick, um auf ein paar der Vogel- und Säugetierarten im Wald hinzuweisen.
Da stolperte der Mann mit der Sonnenbrille gegen sie, hielt sich an ihrem Arm fest.
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