Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Mathematiklehrer Tomlinson inne, obwohl ihm anzumerken war, dass ihn diese Aufgabe allmählich überforderte. Tomlinson hatte insgesamt eine trübsinnige Ausstrahlung, und auch konkrete Enttäuschungen in seinem Leben waren bekannt: eine untreue Frau, ein Sohn mit schwachen schulischen Leistungen. Als Paulson sich als Konkurrent um die Leitung bewarb, wurde er zugunsten des geringfügig bedürftigeren Kandidaten übergangen. Paulson, der beabsichtigt hatte, die Aufführung mit einer Nacktszene und der Darstellung weiblicher Masturbation zu bereichern (an welches Stück er dabei gedacht hatte, ließ er nicht verlauten, doch er schien entschlossen, diese Szenen auf jeden Fall einzubauen), war wütend über diese Entscheidung und setzte eine Reihe Unterrichtsstunden an, um seine Auffassung vom Theater auf eine für seine Schüler unvergessliche Weise zu präsentieren.
Es fing relativ harmlos an. Um die Konventionen der griechischen Tragödie zu veranschaulichen, trug er während der gesamten Unterrichtsstunde eine groteske Gesichtsmaske; nach der Hälfte der Zeit klebte er auch noch die Augenlöcher zu, um die Blindheit von Ödipus zu beschwören, sodass man ihn nur noch an der gedämpften Stimme erkennen konnte, die aus dem großen, gequälten Mund der Maske drang. In der folgenden Woche nahm er König Lear durch und führte die ganze Klasse mitten in einem tobenden Gewitter hinaus auf den Sportplatz, um einen Eindruck von Lears auswegloser Lage auf der Heide zu vermitteln. Dann lieh sich der zunehmend waghalsige Englischlehrer für eine Stunde über eine angesagte Literaturtheorie namens »Der Tod des Autors« von einem Freund an der Medizinhochschule eine Leiche als Requisit aus. Zusammengesunken saß sie vorn, ungerührt von unseren fahrigen Bemühungen um eine epistemologische Diskussion und dem Schluchzen aus der ersten Reihe von Jennifer O’Hara, dem schönsten Mädchen der Klasse.
Diese Darbietung führte zu einem kleinen Disziplinarverfahren, das Paulson mit der Ausrede überlebte, dass es sich bei der Leiche um eine Attrappe gehandelt hatte. Viele der damals anwesenden Schüler schworen jedoch, dass das nicht stimmte. Ich saß ziemlich weit hinten und war mir nicht sicher, zumal ich keine Ahnung hatte, wie ein echter Toter aussah; Richard, auf dessen Meinung ich mich hätte verlassen können, hatte an diesem Tag gefehlt, weil er sich gerade von einem seiner Asthmaanfälle erholte, die in regelmäßigen Abständen auftraten und seine einzige Achillesferse darstellten.
»Dieser Paulson ist ja ein wahrer Theaterschauspieler«, bemerkte Mr. Aloisi zu meinem Dad bei einem der gelegentlichen, eher peinlichen Treffen der beiden Elternpaare, zwischen denen es mit Ausnahme der Freundschaft ihrer Söhne kaum Gemeinsamkeiten gab. Richards Vater war ein Soziologie- und Politologieprofessor aus New York, den weniger das Geld als das Renommee nach Cambridge gelockt hatte und der sich häufig über den fehlenden Glanz von East Anglia beklagte. Die Aloisis hatten ein riesiges Haus ganz am Rand von Witching und gaben Cocktailpartys in der Dimension von denen in Der große Gatsby , die von Prominenz der zweiten Garde aus Europa und Amerika besucht wurden und unvorstellbare Summen verschlangen. Als Gegenleistung für die Einladung zu diesen Gesellschaften baten meine Eltern die Aloisis zum Sonntagsmahl, damit die beiden Väter angestrengt Konversation über unsere Schule machen konnten und Mrs. Aloisi Gelegenheit bekam, um Rezepte für Gerichte zu bitten, die ihr ganz offenkundig nicht schmeckten. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass der Unterschied zwischen unseren Kartoffeln mit Bratensoße und den Kanapees und kalifornischen Weinen der Aloisis exakt die Kluft zwischen meinen Zukunftschancen und denen Richards widerspiegelte.
Einen Lehrer als Theaterschauspieler zu bezeichnen war typisch für Mr. Aloisi, einen Allrounder, der genauso bewandert über Lyrik parlieren konnte wie über die Wahlreform. Mein Vater wusste nicht, was er auf diese Äußerung erwidern sollte. »Auf jeden Fall ist er ein komischer Kauz«, sagte er schließlich. »Mich würde interessieren, wie er es geschafft hat, seinen Job zu behalten.«
»Der schläft garantiert mit der Kean, da wette ich!«, meinte Aloisi.
Mrs. Kean war unsere Rektorin. Richards Vater lachte prustend über seine eigene boshafte Bemerkung, ohne auf den flehenden Doch-nicht-vor-den-Kindern -Blick zu achten, den ihm meine Mutter zuwarf. Richard hatte bereits mit acht Die
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