Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
1
Sonntag, der 10. Juli
Verflixt! Benni hatte ein Messer!
Ein Springmesser. Blitzschnell schoss die Klinge heraus.
»Lass mich
in Ruhe, Schlampe!«, stammelte er. »Ich hab’ nix mit euch zu schaffen!«
Norma ging
drei Schritte zurück. Vom Schiersteiner Hafen wehte Popmusik herüber. In die Klänge
hinein zählte der Sprecher das nächste Rennen an. Mit dem Startschuss setzten die
Trommelschläge ein, dumpf und rhythmisch. Die Trommler steigerten sich zu einem
ungezügelten Stakkato, angefeuert von den Zuschauern rund um das Hafenbecken. Für
einen Moment wünschte sie sich hinüber an den Kai, mitten in den Kreis friedfertiger
Hafenfestbesucher.
»Ich mach
dich fertig, Schlampe!«, fauchte der Junge und stach mit dem Messer Löcher in die
Luft.
Er war betrunken.
Jedoch nicht besoffen genug, um ausnahmslos daneben zu treffen. Sie wagte einen
flinken Blick über die Schulter. Die Leute hoch oben auf der Fußgängerbrücke, die
den Kanal zwischen Hafenbecken und Rhein überspannte, hatten nur Augen für die Endrunde
der Drachenbootrennen und bekamen nichts mit von dem kleinen Drama, das sich darunter
auf der abgelegenen Rheinwiese abspielte. Zum Glück hielt sich das Mädchen ein Stück
abseits. Stocksteif drückte Chrissi den kleinen Lennox an sich.
Dessen Vater
glotzte hinüber und brüllte: »Mach dich weg, du Schlampe!«
Norma blieb
ruhig. »Der Kleine ist Ihr Sohn, Benni.«
Sein Blick
wurde unstet und wanderte hin und her zwischen ihr und dem Mädchen. »Der is’ nich’
von mir! Den will se mir anhängen. Die Schlampe treibt’s mit jedem!«
Ziemlich
sparsam, seine Wortwahl. Gern hätte sie ihm ein paar Nettigkeiten um die Ohren gepfeffert.
Ihre Geduld ging dem Ende zu. Selbst schuld! Warum hatte sie sich auf den Streit
eingelassen, der ihr nichts außer Ärger einbringen würde? Chrissi war zu ihr gekommen,
weil Benni sich vor der Verantwortung drückte. Offensichtlich hatte sich Normas
Großzügigkeit unter jungen, alleinerziehenden Müttern herumgesprochen. Auch Chrissi
hatte sie ihre Hilfe nicht abschlagen wollen, zumal sich das Mädchen gewissenhaft
und liebevoll um den Kleinen kümmerte. Chrissi lebte von Hartz IV und hätte sich
niemals eine Privatdetektivin leisten können. Den jungen Vater hatte Norma schnell
aufgetrieben. Als ehemalige Kriminalhauptkommissarin hatte sie gute Kontakte zum
Wiesbadener Polizeipräsidium. Dort war Benni kein unbeschriebenes Blatt. Einbrüche
in Kioske und Autoaufbrüche standen in seiner Akte. Dass er gewalttätig werden könnte,
hatte niemand vorhergesagt. Auch nicht der Bewährungshelfer, der ihm Arbeit bei
einem Rheingauer Winzer vermitteln konnte. Am Freitag hatte sie Benni zum Feierabend
abgefangen. Im nüchternen Zustand hatte er sich halbwegs besonnen und einsichtig
gegeben und das Treffen selbst vorgeschlagen. Am Sonntag sei Hafenfest in Schierstein,
da könne man ja mal miteinander reden. Nachdem Norma ihn mit Chrissis Hilfe zwischen
Achterbahn und Verkaufsständen an einer Bierbude aufgestöbert hatte, waren alle
drei zum Rheinufer gegangen, um abseits vom Trubel ungestört zu sein.
»Es gab
einen Vaterschaftstest, Benni. Das Ergebnis haben Sie anerkannt. Sie erinnern sich?«
»Die Schlampe
will mich reinlegen!«
Er warf
das Messer von einer Hand in die andere und demonstrierte eine, gemessen am Alkoholpegel,
beachtliche Fingerfertigkeit.
Norma griff
in die Hosentasche und schleuderte ihr Handy in Chrissis Richtung. »Bleib, wo du
bist! Ruf die Polizei!«
Weil sie
nicht wusste, wie viel sie von dem Mädchen erwarten durfte, sagte sie ihr die Nummer
des Notrufs. Das hätte sie sich sparen können.
Chrissi
ignorierte die Bitte, kümmerte sich nicht um das Telefon, sondern tastete sich Schritt
für Schritt heran. »Mach keinen Scheiß, Benni! Du bist auf Bewährung. Riskier’ nicht
deinen Job!«
So naiv
war sie gar nicht, die Chrissi! Im Knast kein Job. Ohne Job kein Lohn. Ohne Lohn
kein Cent Unterhalt. Norma konnte nicht auf Chrissis Beistand bauen. Sie musste
allein klarkommen. Benni präsentierte ungerührt seine Messerakrobatik. Der Wind
trug die Trommelschläge des nächsten Rennens heran. Von der Dyckerhoff-Brücke kam
begeistertes Klatschten. Norma stand der Schweiß auf der Stirn. Die Sonne knallte
ihr ins Gesicht. Lennox meldete sich zu Wort. Maunzend wie eine junge Katze zappelte
er in den Armen der Mutter, die Mühe hatte, ihn festzuhalten. Dann brüllte er los.
Das Sirenengeheul seines Sohnes irritierte Benni. Die Waffe glitt
Weitere Kostenlose Bücher