Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Kinderfibel Sex und Sexualität 1 bekommen und war längst vertraut mit Begriffen, deren Kenntnis ich nur vortäuschen konnte. Das allein reichte jedoch nicht, um ihn vor Paulsons nächstem Streich zu schützen.
Als der Englischlehrer nach einem kurzen »Urlaub« zurückkehrte, war er so vernünftig, seine chaotischen Instinkte fürs Erste zu zügeln, zumindest so lange, bis ein wenig Gras über die Sache gewachsen war. Niemand rechnete mit bösen Absichten, als er eine Stunde über Othello mit einer Frage nach Richards Gesundheit einleitete. Wegen erneuter Probleme mit seinem Asthma war er eine ganze Woche daheimgeblieben – was er sich allerdings ohne Weiteres leisten konnte, zumal es in seinem Elternhaus mehr Bücher gab als in unserer Schulbibliothek.
»Ohne dich, Richard«, verkündete Paulson, »war der Unterricht letzte Woche ziemlich leblos.«
Wie alle starken Übertreibungen enthielt auch diese einen Kern von Wahrheit, und Richard tappte in die Falle.
»Das tut mir aber leid.« Seine Antwort klang etwas selbstgefällig.
»Ja«, fuhr Paulson fort. »Wir haben dich alle sehr vermisst. Bitte einen herzlichen Beifall für Richard Aloisi.«
Ein wenig verwirrt, aber entgegenkommend spendete die Klasse den gewünschten Applaus. Leicht geschmeichelt wetzte Richard auf seinem Platz hin und her.
Gelassen wie ein Impresario lehnte sich Paulson an die kreideverschmierte Tafel. »Natürlich gibt es auch Menschen, die dich für einen überprivilegierten, übertrieben selbstbewussten Bengel halten, dem alles in den Schoß fällt und der den fleißigeren Schülern die Schau stiehlt. Aber diese Menschen sind sicher bloß neidisch.« Die Atmosphäre änderte sich so plötzlich, als hätte Paulson zu brüllen begonnen. Doch sein Ton blieb bedrohlich ausgeglichen, und jede Silbe kam so präzise wie der Name eines Feindes. Ich spürte, wie Richard erstarrte und mir einen hilfesuchenden Seitenblick zuwarf, doch meine Augen hingen wie gebannt an dem Sprecher. »Tatsächlich sind Menschen oft neidisch auf diese Kinder, deren Väter sie aus dem Ausland herüberbringen, sie maßlos verwöhnen und ihnen den bestmöglichen Start ins Leben verschaffen. Reichtum führt natürlich zu Missgunst, und wenn dann noch Arroganz dazukommt …«
»Sir …?« Mit dem Ausdruck von jemandem, dem ein nicht genauer fassbares Vergehen zur Last gelegt wird, versuchte Richard zu protestieren, doch seine Zunge schien auf einmal schwer und belegt und sein großes Selbstvertrauen wie weggeblasen.
Paulson amüsierte sich königlich. »Und was die Gerüchte über deine Sexualität angeht …«
Wie ein Luftzug wehte eine Mischung aus Schaudern und Kichern durch das Klassenzimmer. Das Terrain, das der Lehrer soeben betreten hatte, war so sumpfig, dass selbst die berüchtigtsten Widerlinge an der Schule einen Bogen darum gemacht hätten. Die stolze Röte auf Richards Gesicht war fast in ihr Gegenteil umgeschlagen: Unbekannte Schattierungen von Empörung und Verlegenheit flackerten über seine Züge. Draußen war es totenstill, als würde die gesamte Schule zuhören.
»Dabei verstehe ich gar nicht, was diese Leute wollen.« Paulson unterstrich seine Worte mit übertriebenem Achselzucken und Kopfschütteln. »Du bist doch nicht homosexuell, Richard, oder?«
Aus Richards Kehle drang kein Laut. Zum ersten Mal überhaupt bemerkte ich in seinen Augenwinkeln Tränen, als sich eine ganze Pressekonferenz umgewandter Köpfe an seinem Unbehagen weidete. Um einige Münder huschte ein höhnisches Lächeln, als der Goldjunge der Klasse im Rampenlicht schwitzte.
»Und selbst wenn du es bist«, setzte Paulson hinzu, »wie kämen wir dazu, das zu verurteilen? Hier bei uns mag Homosexualität vielleicht als falsch gelten. Aber Amerika ist weit weg. Dort wird alles ganz anders gemacht.«
»Ich bin nicht … homosexuell, Sir.« Richards Stimme bebte unsicher. Von mehreren Seiten kam ein kaum unterdrücktes Glucksen, als hätte er sich durch die Wiederholung des Wortes selbst belastet.
»Ist das der übliche Spruch, mit dem du dich rausredest?«, entgegnete Paulson.
Ungefähr die Hälfte der Klasse wurde von einer schuldbewussten Lachwelle mitgerissen. Ich wand mich innerlich bei dem Gedanken, dass ich meinen Freund im Stillen schon öfter zu so einem Strafgericht verurteilt hatte, um ihm einen »Dämpfer« zu verpassen, wie Dad das vielleicht genannt hätte. Richard hatte sich inzwischen mit dem Unvorstellbaren abgefunden wie ein Albtraumgeplagter, der halb erahnt,
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