Ruf der Dämmerung (German Edition)
spürte, dass Ahi versuchte, es zu zerreißen.
»Es geht auch nicht nur um dich, Vio …«, sagte er leise. »Du musst es doch selbst sehen – ich bin nicht wie ihr. Ich falle auf, die Menschen lieben oder hassen mich, aber sie spüren immer, dass ich etwas Fremdes bin. Es gibt keine Harmonie – zwischen euch Menschen schon selten, aber zwischen euch und anderen Wesen nie!«
»Wie kannst du das sagen?«, fuhr Viola auf. »Wir leben doch in Frieden mit … na ja, mit Tieren …«
»Wenn ihr sie nicht gerade esst«, meinte Ahi bitter. »Oder seziert. Und wenn es nach eurem Kopf geht. Wenn ihr ein Pferd reiten könnt oder einen Hund dazu bringt, die Schafe zu hüten, ist alles gut, aber wehe, sie wehren sich. Und das sind Kleine Seelen, Viola, die keine Konkurrenz darstellen …«
Er sprach das Wort aus, als habe er es gerade erst gelernt, und offensichtlich hatte er ja auch heute erst begriffen, was es bedeutete. »Jemand wie ich … Vergiss es, Viola! Wir müssen auf deine Freundin hören … Katja …«
»Katja?«, fragte Viola verblüfft. »Was hat die denn jetzt damit zu tun?«
Ahi rieb sich die Stirn. »Sie hat zu mir gesprochen, bevor sie gefahren ist. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich dich umbringe, und sie hatte recht! Sie hat das Risiko erkannt und ich höre noch ihre Stimme: ›Wenn Vio es nicht schafft, musst du es beenden. Tu es, wenn du sie liebst.‹ Ich liebe dich, Viola. Und deshalb beende ich es jetzt.«
Er stand auf, etwas mühsam, offensichtlich noch unter Schmerzen.
Viola überlegte fieberhaft. Es durfte nicht zu Ende sein, er konnte sie nicht verlassen! Es musste andere Möglichkeiten geben …
Inzwischen hatte es zu regnen begonnen und mechanisch zog sie den Schleier hinauf in ihr Haar. Und dann fiel es ihr ein: »Ein Kelpie in Menschengestalt bannt man mit einem Brautschleier. Falls da also Bedarf besteht …« Patricks flapsige Bemerkung.
»Warte!«, sagte Viola mit fester Stimme.
Ahi blieb stehen.
»Warte, beweg dich nicht. Ich hab dich eben schon damit berührt. Du musst …« Blitzschnell, bevor Ahi noch reagieren konnte, legte sie Ainnés Schleier um seinen Körper. Versuchte, ihn damit an sich zu ziehen. Er sollte bei ihr sein. Als Mensch.
Ahis Augen weiteten sich. Er schluckte. Dann sah er sie fest an. »Viola, willst du das? Willst du es wirklich?« Er streckte ihr die Hände entgegen, kreuzte sie, bereit, sich binden zu lassen. »Willst du mich dazu verurteilen, ein Mensch zu sein? Willst du mir mein Lied rauben, meine Seele? Ich trage keinen Schutzstein, Viola. Und ich wehre mich nicht. Also tu es. Aber … aber sag mir nicht, dass du es aus Liebe tust!«
Viola ließ den Schleier los. Sie umfasste Ahi, ihr Kopf sank an seine Brust. Auch Ahi gab seine spröde Haltung auf, legte die Arme um sie – aber er konnte sie nicht mehr trösten. Viola wimmerte. Ahi weinte.
»Küss mich noch einmal!«, sagte er schließlich. »Aber dann muss ich gehen …«
Viola hob den Kopf und bot ihm ihre Lippen. Sie spürte noch einmal die Kühle seiner Haut, die Sanftmut seines Kusses, ging ein letztes Mal in ihm auf und empfand seine unendliche Erleichterung und unendliche Liebe.
»Ich werde dich nie vergessen …«, flüsterte Ahi.
Dann ließ er sie los. Viola stand wie erstarrt, während er rückwärts zum Wald ging und zwischen den Stämmen zu verschwinden schien. Und dann sah sie einen grauen Hengst, tastenden Schrittes, aber mit hoch erhobenem Haupt und wehender Mähne, auf das Ufer zugehen. Sie beobachtete, wie er die Hufe ins Wasser setzte, wie er schwamm – und plötzlich meinte sie, die Musik zu hören, mit der sein Volk ihn empfing. Einen Nachklang der Musik, ein Verwehen … bevor sie sich so allein fühlte wie niemals seit ihrer ersten Berührung mit Ahi. Die Verbindung war zerbrochen.
Viola schluchzte. Weinend stand sie am Ufer des Sees.
20
Viola schaffte es irgendwann und irgendwie zum Campingplatz – wo Shawna schon in heller Aufregung begonnen hatte, sämtliche Taxiunternehmen anzurufen.
»Wo um Himmels willen warst du? Ich hab schon befürchtet, der Taxifahrer hätte dich verschleppt …« Shawna blieb der Scherz im Hals stecken, als sie Violas Gesicht sah. »Mein Gott, Vio, was ist denn passiert?«
»Es ist aus!«, konnte Viola gerade noch flüstern, bevor sie wieder in Tränen ausbrach. »Er … er geht zurück …«
»Nach Dänemark?«, fragte Shawna betroffen. »Von jetzt auf gleich? Wegen dem blöden Spiel? Komm, Vio, da ist das letzte Wort sicher noch nicht
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