Ruf der Dämmerung (German Edition)
ließen sich im Allgemeinen nicht von ihm aus der Ruhe bringen. Allenfalls begannen sie ein kleines Kampfspiel, wenn sie gerade in Lauflaune waren. Dann sprangen sie mit gebleckten Zähnen und vorgestrecktem Kopf auf den Collie zu, der sich bellend in Sicherheit brachte.
Dieses Pferd jedoch galoppierte in Panik davon. Und als es jetzt kurz vor Viola über den Pfad rannte, fiel ihr auch auf, dass es anders aussah als Bills Ponys. Die waren größtenteils Schecken und Braune – aber dieses Pferd schimmerte in einem fast ins Bläuliche spielenden Grau und seine Mähne war nicht von Shawna auf eine Handbreit Länge gekürzt, sondern wehte lang wie ein Schleier hinter ihm her. Schieferfarben, quecksilberfarben … wie der See an diesem verwunschenen Abend.
Viola sah dem Tier irritiert hinterher – aber dann erschrak sie. Das fremde Pferd schien wirklich in Panik und es rannte genau auf die Weide zu, die sie gestern eingezäunt hatten. Ob es wusste, dass dort jetzt ein Zaun stand? Wenn es in diesem Tempo weiterrannte, würde es fast unmöglich sein, vorher noch anzuhalten. Konnten Pferde so hoch springen? Violas Herz raste. Sie pfiff nach Guinness, obwohl der kleine Hund das Pferd längst nicht mehr verfolgte. Und sie rannte. Als gäbe es irgendeine Möglichkeit, das Pferd noch aufzuhalten. Als ob sie überhaupt Interesse daran hätte, was mit diesem komischen, fremden Tier geschah …
Und dann sah sie den Zaun und das Pferd, das sich ihm näherte. Die Entfernung war groß, dazu der Nebel – Viola konnte das Geschehen nur schemenhaft erkennen, aber sie meinte zu sehen, wie das Pferd stutzte, zu stoppen versuchte – und dann doch mit dem Mut der Verzweiflung abhob und sprang. Viola fühlte ihr Herz stehen bleiben, wollte die Zeit anhalten und das Pferd mit der Kraft ihrer Gedanken über die
Hürde heben … Aber dann sah sie es fallen – oder meinte, es fallen zu sehen, alles schien im Nebel zu verschwimmen. Guinness bellte … Viola setzte sich wieder in Trab. Ihr graute vor dem, was sie auf der anderen Seite des Zauns vorfinden würde, aber sie lief auf das Koppeltor zu. Sie hatte ihr Handy dabei – vielleicht konnte sie Hilfe herbeirufen, wenn sich das Pferd verletzt hatte … Oh Gott, gab es überhaupt Hilfe für verletzte Pferde? Musste man sie nicht erschießen? Violas Herz hämmerte gegen ihre Brust, sie rannte schneller, stieß das Tor auf – und hätte das Pferd jetzt eigentlich bereits sehen müssen. Sicher, es wurde langsam dunkel und der Nebel immer dichter. Aber ein Pferdekörper war groß … Hatte sie sich die Stelle womöglich falsch eingeprägt? Jetzt rannte Guinness jedoch wieder vor und bellte etwas an, genau da, wo Viola das Pferd hatte fallen sehen. Sie gebot dem Hund zu schweigen und trat näher. Da war tatsächlich etwas. Aber kein Pferd lag hinter dem Zaun, sondern ein Mensch. Ein Junge, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Er stöhnte leise und hielt sein rechtes Bein umklammert. Als Viola näher kam, versuchte er aufzustehen.
Viola starrte ihn an. »Wo … wo kommst du denn her?«, fragte sie verblüfft.
Der Junge sah mit irritierend blaugrauen Augen zu ihr auf. Viola konnte sich kaum losreißen. Dabei war es zweifellos unhöflich, einen anderen, noch dazu einen Verletzten, der eher Hilfe brauchte, derart anzustarren. Aber sie hatte noch nie solche Augen gesehen, tiefblau im Grunde, aber die Iris durchsetzt wie von tanzenden Nebeln. Der Junge hatte langes, fahlblondes Haar, dessen Farbe beinahe ins Silbrige spielte. Sein Gesicht war schmal, durchscheinend blass und fremdartig, beherrscht von diesen seltsamen, leicht schräg stehenden Augen. Seine Lippen waren von zartem Rot, geschwungen, als hätte sie jemand mit einem feinen Pinsel gemalt. Seine Nase war schmal, seine Wangenknochen hoch und zerbrechlich zart unter der scheinbar dünnen Haut.
Ein Prinz aus dem Märchen, fuhr es Viola durch den Kopf, aber dann zwang sie sich, an Diesseitigeres zu denken. »Du bist verletzt«, bemerkte sie. »Was ist passiert? Ich … Da war eben noch ein Pferd …« Sie kam sich plötzlich blöd vor. Dieses Pferd von vorhin – sie musste es sich eingebildet haben. Schließlich konnte sich der Schimmel kaum in einen Jungen verwandelt haben …
»Ein Pferd?«, fragte der Junge – es war sicher spöttisch gemeint, aber es klang ganz ernsthaft. »Hier war nur ich … ich … habe versucht, über den Zaun zu klettern. Aber … ich bin ausgerutscht.«
Eine leise, singende Stimme, eine fließende,
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