Ruf der Dämmerung (German Edition)
anmutige Bewegung seiner langen, schmalen Hände. Der Junge wies auf sein Bein.
Viola schaute genauer hin. Sie hatte nicht gerade Ambitionen, Ärztin zu werden, aber sie konnte Blut sehen und hatte ihren Erste-Hilfe-Kurs für den Mofa-Führerschein problemlos bewältigt. Das Bein des Jungen sah allerdings schlimmer aus als die Bilder, die man ihr dort gezeigt hatte. Es stand unterhalb des Knies in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab. Nach Violas Einschätzung war es gebrochen.
»Das soll passiert sein, als du von der dünnen Latte gestürzt bist?«, fragte sie ungläubig. Der Zaun war vielleicht einen Meter zehn hoch und die Latte musste gesplittert sein, als der Junge den Fuß darauf setzte. Aber dabei hätte er sich doch höchstens den Knöchel verstauchen können! Diese Verletzung dagegen sah aus, als sei jemand mit viel Schwung zum Beispiel einen steilen Abhang heruntergestürzt … Viola sah das Pferd aus vollem Galopp abspringen und dann fallen … Dabei konnte man sich durchaus das Bein brechen. Aber der Schimmel war doch nur wenige Meter vor ihr über den Weg galoppiert. Sie hätte einen Reiter bemerken müssen!
Und der Junge trug auch kein Reitzeug. Seine weite Hose und sein Hemd schienen eher aus einer Art Leinen gefertigt zu sein. Die Muster wirkten batikartig. Jedenfalls keine Mode, wie man sie in Roundwood verkaufte. Und auch nicht in Braunschweig. Aber an dem schmalen Körper des Jungen wirkte die fremdartige Bekleidung richtig, wie auf ihn und seine Erscheinung zugeschnitten.
Der Junge antwortete nicht, sondern versuchte nur, wieder auf die Beine zu kommen. Er stöhnte leicht, als er die Aussichtslosigkeit seines Tuns einsah. »Würdest du mir helfen?«, fragte er leise, als falle es ihm schwer, sie darum zu bitten. »Würdest du meine Hand nehmen?«
Viola wollte nicken, aber gleichzeitig den Kopf schütteln. »Das bringt doch so nichts«, bemerkte sie. »Das Bein ist gebrochen, du musst ins Krankenhaus. Ich hab ein Handy dabei, ich kann einen Arzt rufen …«
»Nein … keinen … keinen Arzt. Es ist nicht so schlimm. Es ist gleich besser. Wenn du nur …«
Der Junge streckte ihr die Hand entgegen. Viola zuckte die Achseln. Gut, sicher schadete es nicht, wenn sie ihm zum nächsten Felsen half. Aufstehen mochte sogar gut sein, vielleicht kurbelte es seinen Kreislauf an. So blass wie der Junge war, konnte er es brauchen.
Und wie kalt seine Hand sich anfühlte … Kühl, aber nicht unangenehm … Viola umschloss sie kraftvoll mit ihren Fingern, um ihm aufzuhelfen. Aber der Junge machte keine Anstalten, sich an ihr hochzuziehen, er schien ihre Hand nur halten zu wollen … Viola legte ihm entschlossen den anderen Arm um die Schulter, zog ihn in eine sitzende Position und stützte ihn schließlich, als er aufstand. Er schleppte sich zum Felsen – zunächst auf einem Bein, aber dann bemerkte Viola fast ungläubig, dass er auch das verletzte Bein leicht belastete. Eigentlich unmöglich, er hätte vor Schmerzen aufschreien und hinfallen müssen, aber er verzog nur kurz den Mund. Schließlich erreichten sie den Stein.
»Hier kannst du dich hinsetzen«, sagte Viola. »Und ich rufe …« Sie wollte nach ihrem Handy tasten, aber der Junge ließ ihre Hand nicht los.
»Nein, bitte … nicht … nicht anrufen … nur … lass mich nur deine Hand halten. Nur … nur ein bisschen länger …«
Viola war verwirrt und leicht verärgert. Sie überlegte, ob sie sich losreißen sollte – irgendetwas stimmte nicht mit dem Typen. Aber andererseits gab es keinen Grund, ihm die Bitte abzuschlagen. Er war nicht aggressiv, seine Stimme klang nur sanft und flehend, sein Griff war nicht wirklich fest. Es wäre leicht gewesen, sich zu befreien. Aber andererseits war es auch kein unangenehmes Gefühl, ihre Hand von den langen, kühlen Fingern des Fremden umfasst zu fühlen. Im Gegenteil – es war fast ein bisschen berauschend, so als fände hier mehr statt als ein flüchtiger Kontakt. Viola fühlte sich leichter, die Zeit schien stillzustehen – hinterher wusste sie nicht mehr, ob nur Sekunden oder Minuten vergangen waren –, während sie im bläulichen letzten Licht des schwindenden Tages stand und die Hand des verletzten Jungen hielt. Ihr war etwas schwindelig, als der Fremde sie schließlich freigab.
»Danke. Vielen Dank. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel … zu viel von dir verlangt …«
Der Junge richtete sich auf, suchte mit beiden Füßen Halt auf dem Boden – und stand auf! Etwas unsicher noch,
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