Ruf der Dämmerung (German Edition)
aber er stand eindeutig auf beiden Beinen.
»Ich muss gehen … es wird dunkel …«, sagte er leise und versuchte, einen Schritt zu machen. Seine Beine trugen ihn nicht sofort, er taumelte und suchte instinktiv Halt an Violas Schulter.
»Entschuldige … Danke …«, sagte er wieder. »Wenn du … wenn du mich gerade noch etwas stützen könntest … ich denke, ich bin noch ein wenig steif …«
Die sprachlose, jetzt völlig verwirrte Viola bot ihm ohne Widerspruch den Arm. Der Junge war etwas größer als sie, nicht schwer, aber er brauchte ihre Hilfe auch nur eine kurze Zeit lang. Mit jeder Bewegung wurde er sicherer, seine Schritte fester – sofern dieser Junge überhaupt fähig war, feste Schritte zu machen. Als er schließlich frei neben Viola herging, tat er das mit der Anmut eines Tänzers.
Viola versuchte, wieder klare Gedanken zu fassen, während sie zum See hinuntergingen. Sie musste mehr über den Jungen erfahren – schon, weil er so verteufelt gut aussah.
Über die merkwürdigen Umstände ihrer Bekanntschaft konnte sie später nachdenken.
»Ich … ich hab dich hier noch nie gesehen. Wohnst du in der Gegend?«
Der Junge nickte. »Ja«, sagte er freundlich, gab aber keine näheren Auskünfte.
»Aber … du gehst nicht zur Schule?« Sie hätte das ebenso gut als Feststellung formulieren können. Dieser Junge wäre ihr im Bus nicht entgangen.
»Nicht so wie du. Nein.«
Was bedeutete das nun wieder? Gab es noch andere Schulen in der Gegend als die Roundwood High?
»Ich muss nun fort …«, sagte der Junge. »Geht es … geht es dir gut?«
Diese verrückte Frage brachte Viola endgültig in die Wirklichkeit zurück. »He, du bist gestürzt, nicht ich, oder?«, blaffte sie ihn an. »Wobei ich zu gern wüsste, was da wirklich passiert ist. Dein Bein war gebrochen. Aber jetzt läufst du herum, als wäre nichts passiert …« Sie kam sich schon blöd vor, als sie es aussprach. Der Junge müsste sie für völlig verrückt halten. Schließlich war es offensichtlich, dass sein Bein nicht ernstlich verletzt gewesen war. Aber warum hatte es dann so ausgesehen?
»Ich hatte Glück, dass du da warst«, meinte der Junge ernsthaft. »Du hast mir … gegeben … Ich kann dir nicht genug danken …«
Viola wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. War das ein Flirt? Von ihren Altersgenossen her kannte sie so etwas gar nicht, höchstens aus Fantasyrollenspielen. Da sagten die Ritter schon mal: »Deine Liebe hat mir geholfen.« Oder: »Ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben …«
Viola rief sich energisch zur Ordnung. Wer sprach hier von Liebe?
»Gern geschehen«, sagte sie spröde. »Wo willst du denn hin?«
Der Junge war stehen geblieben und lächelte ihr noch einmal zu. Ein süßes, fremdartiges Lächeln … Und dann wandte er sich von ihr ab in Richtung Wald und See.
»Heim … «, sagte er leise. »Und du solltest auch gehen. Man wird sich Sorgen machen. Man wird uns schelten …«
Bevor Viola noch etwas erwidern konnte, verschwand er im Nebel. Sie sah ihn nur noch schemenhaft auf den Wald zugehen – oder auf den See? Da gab es doch gar keinen Weg mehr. Und lief dort überhaupt ein Mensch? Oder tanzte wieder ein Pferd durch den Nebel?
Viola griff sich an den Kopf. Sie musste ernstlich spinnen. Und sie musste Katja von dieser Begegnung erzählen.
Zum Abendessen gab es ungesalzenen Fisch zu ungesalzenen Kartoffeln. Ainné hatte gezwungenermaßen gekocht. Die Stimmung am Tisch war dementsprechend. Ainné nahm Viola ihr Verschwinden übel, Dad und Bill kauten missmutig an dem ungewürzten und obendrein etwas angekokelten Heilbutt. Um die Atmosphäre aufzulockern und vielleicht wenigstens Bill freundlicher zu stimmen, berichtete Viola von ihrer Begegnung mit dem grauen Pferd.
»Ein fremder Gaul? Bei meinen Ponys?«
Von wegen Aufheiterung!
»Die kleine Reilley von Bayview House hat einen Schimmel … Na, die kann was erleben, wenn ich den hier erwische!«
Bayview House war das Berghotel und Moira Reilley ging in Violas Klasse. Sie war eines der Mädchen, mit dem sich Shawna mitunter über Pferde unterhielt. Viola hatte bisher nicht gewusst, dass sie ein eigenes Pferd besaß, aber es erklärte, warum sie Shawna immer ein bisschen von oben herab behandelte. Viola selbst aber ließ die Information aufatmen. Schließlich erklärte sie die Herkunft des mysteriösen Schimmels.
Bill räsonierte noch ein bisschen über Leute, die ihre Viecher nicht unter Kontrolle hielten, während Viola überlegte,
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