Ruf der Dämmerung (German Edition)
Seine Finger fühlten sich kühl an, wie beim letzten Mal, aber erneut empfand Viola ihren Griff nicht als unangenehm.
»Na dann … danke …«, murmelte Viola, immer noch unschlüssig. Einerseits lag der Stein in ihrer Hand, als ob er dort hingehörte, andererseits wollte sie auf keinen Fall Komplikationen. Sie wagte aber auch nicht, länger zu widersprechen. Schließlich wollte sie den Jungen nicht zornig machen. Erst recht nicht, wenn etwas mit ihm nicht stimmte. Ihr seltsamer neuer Freund war schmal, aber doch muskulös, Viola hatte seine Kraft gespürt, als sie ihm damals aufgeholfen hatte, und sie sah auch jetzt das Muskelspiel unter seiner leichten, fast farblosen Kleidung. Der zarte, beinahe durchsichtige Stoff war ihr schon bei ihrer letzten Begegnung aufgefallen. Sie hatte so etwas noch nie zuvor gesehen, es wirkte ein bisschen wie Leinen, aber so dünn, als hätten Spinnen es gewebt. Noch etwas, das eigenartig war an … sie musste unbedingt erfahren, woher der Junge kam und wie er hieß!
»Ich … ich werde ihn vor mein Fenster legen, dann schimmert er im Mondlicht und ich … denke an dich …«, leitete sie weitere Erkundigungen ein. »An …«
»Ahi«, sagte er lächelnd, fast als habe er ihre Absicht erraten.
»Ali?«, fragte Viola nach, sie war sich nicht ganz sicher, dass sie richtig verstanden hatte. Aber es gab einen tamilischen Imbiss im Dorf – vielleicht stammte der Junge ja aus der Familie, die ihn betrieb! Das erklärte zwar noch nicht, warum er sich offenbar tagelang im Wald herumtrieb, aber immerhin seine Fremdheit im Dorf und seine eigenartige Ausdrucksweise. Auch wenn er vom Typ her keinen südländischen Eindruck machte. Vielleicht …
»Wie Alistair?«, riet sie. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so hieß, aber der Name kam in Büchern und Geschichten vor. Ein alter Name, wie der eines Fürsten oder Prinzen aus der Sage.
»So ähnlich …«, meinte der Junge. »Und … dein Name?«
»Viola«, antwortete sie. Der Name war ihr ein bisschen peinlich. Niemand sonst hieß so. Zumindest nicht in ihrer Schule in Deutschland und hier erst recht nicht.
»Wie ein Instrument …«, sagte Ahi. »Die Bratsche … aber deine Stimme klingt mehr wie … wie die Viola d’Amore …«
Was sollte das denn werden? Wieder ein Flirtversuch? Viola spürte, wie sie rot wurde, und ärgerte sich darüber. Aber gleichzeitig ärgerte sie sich auch über ihre unförmige Wachsjacke und die Ententreter und darüber, dass sie sich vor dem Spaziergang nicht gestylt hatte. Ihre Haare sahen schrecklich aus …
»Aber Viola passt zu dir. Du bist wie Musik …«
Ali schien ihr misslungenes Outfit jedenfalls nicht wahrzunehmen. Und seine sanfte, singende Stimme bewegte etwas in ihr.
»Alistair passt auch zu dir«, meinte Viola schließlich leicht widerwillig. »Ein Name wie aus einem alten Märchen.«
Ahi lachte. »Der falsche Pfad zum richtigen Ziel …«, sagte er leise. Wieder eine Bemerkung, mit der Viola nichts anfangen konnte. Der Junge war komisch. Aber sicher nicht zurückgeblieben. Auch verrückt oder gefährlich erschien er ihr nicht zu sein, sondern einfach nur – anders.
Viola streichelte den Stein in ihrer Hand. »Hat er irgendeine Bedeutung?«, erkundigte sie sich. »Ich meine … man sagt doch, dass Edelsteine … irgendwie …« Sie brach ab. Katjas Mutter hatte ein Buch über Edelsteinmagie, aber Katja und Viola hielten das für Blödsinn.
»Er kann dich schützen … «, meinte der Junge ernst. »Vor … Diebstahl … Auf jeden Fall sind wir jetzt quitt, ja? Ich möchte nicht, dass du schlecht von mir denkst. Ich wollte dich nicht berauben …«
Er schien noch mehr sagen zu wollen, aber dann schaute er zum See hinunter und in seine sprechenden Augen trat ein seltsamer Ausdruck von Wachsamkeit.
»Ich muss gehen …«, sagte er in plötzlicher Eile. »Farewell …« Er winkte ihr zu, als er aufstand.
Viola wurde immer verwirrter. Dieses merkwürdige Gerede … Sie hätte noch tausend Fragen gehabt. Aber jetzt wollte er ja plötzlich fort – von einem Moment zum anderen, eben schien er noch endlos Zeit zu haben. Und wieso sagte er nicht einfach Tschüss, sondern wählte diesen altertümlichen Ausdruck für – einen Abschied ohne Wiederkehr?
»Sehen wir uns nicht wieder?«, fragte sie beklommen. »Ich meine … es … es war irgendwie nett, mit dir zu reden …«
Der Junge lächelte, fast sehnsüchtig.
»Ich weiß nicht …«, sagte er dann. Zum ersten Mal, seit Viola ihn
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