Ruf der Dämmerung (German Edition)
fremden Jungen zu teilen schien. Er schmiegte sich fast ängstlich an ihre Beine.
Viola fragte sich, ob »Kleine Seele« auf Irisch vielleicht die gleiche Bedeutung hatte wie »Kleiner Kerl« oder etwas Ähnliches, mit dem man einen Hund bezeichnete, dessen Namen man nicht kannte. Oder bewies der Junge hier erneut, dass Englisch doch nicht seine Muttersprache war? Einen Akzent konnte Viola nach wie vor nicht ausmachen.
Aber etwas anderes war viel beunruhigender. Der Junge hatte sie hier gesehen. Wie konnte das sein? Beobachtete er sie? Oder spazierte er selbst ziellos um den See?
»Und was machst du hier?«, fragte sie ihn schließlich mit leicht aggressivem Unterton. »Du … kannst nicht hier wohnen. Niemand wohnt hier …«
Der Fremde lächelte wieder. »Doch … «, sagte er sanft, schien das aber nicht weiter ausführen zu wollen.
Ob er vielleicht von zu Hause ausgerissen war und jetzt in den Ruinen des Sommerhauses schlief? Das musste um diese Jahreszeit schon ziemlich ungemütlich sein, aber es wäre natürlich eine Erklärung. Aber halt, hatte er nicht gesagt …?
»Hast du denn Ärger bekommen, beim letzten Mal?«, fragte sie listig. »Du meintest doch, man würde dich schelten.«
Wenn sie es sich recht überlegte, war auch das ein Ausdruck, den sie von Shawna und den anderen irischen Jugendlichen noch nie gehört hatte.
Der Junge nickte und über sein ausdrucksvolles Gesicht zog ein Anflug von Trauer. »Ja …« Er klang unglücklich. »Ich … hatte meinen Auftrag nicht erfüllt …«
Er schien mehr sagen zu wollen, hielt sich dann aber zurück.
Viola beschloss, dass es albern war, hier herumzustehen, während er auf der Brücke saß. Er war offensichtlich nicht gefährlich – wenn auch äußerst seltsam. Und wenn sie mehr über ihn herausfinden wollte, war es sicher sinnvoll, sich neben ihn zu setzen. Aber nicht zu nahe! Sie schob sich auf den Brückenabsatz, zog die Beine an und legte die Arme darum.
Der Junge schien die Botschaft zu verstehen. Auch er hielt selbstverständlich Abstand zu Viola. Vor allem machte er keine Anstalten, wieder nach ihrer Hand zu greifen. Viola empfand Verwirrung, als sie feststellte, dass sie das vage bedauerte. So saßen sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander.
Schließlich nestelte der Junge etwas aus seiner Tasche. Viola erkannte einen geldstückgroßen, violett glitzernden Stein. Ein Diamant? Nein, das konnte nicht sein. Aber wohl ein Edelstein oder Halbedelstein oder wie man die Dinger nannte. Neugierig linste sie zu dem Jungen hinüber.
Der fixierte sie zunächst auch nur schüchtern von der Seite, schien sich dann aber zu überwinden. Er wandte sich ihr langsam zu und hielt ihr den Stein hin – fast vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken oder zu berühren.
»Der ist für dich!«, sagte er leise. Dabei barg er den leuchtenden Stein fast ehrfürchtig in seinen langen, schmalen Händen.
Als Viola danach griff und seine Finger streifte, schien sie wieder einen Anklang des eigenartigen Gefühls von neulich zu empfinden, während sie die Hand des Jungen gehalten hatte. Es war, als schaffe der Stein eine Verbindung zwischen ihr und dem Fremden, der ihn eben noch am Körper getragen hatte.
»Ich möchte dir damit danken«, sagte der Junge förmlich. »Für … für deine Hilfe neulich …«
Viola wurde rot und winkte ab. »Das war doch nicht der Rede wert«, erklärte sie. »Das hätte jeder gemacht. Dafür musst du mir nichts schenken.«
»Doch!« Der Junge rief es fast heftig und wirkte auf einmal angespannt. »Doch, ich schulde es dir! Ich habe dir etwas genommen und …« Er brach ab.
Viola runzelte die Stirn. »Genommen?«, fragte sie.
Es sah nun doch so aus, als ob der Junge nicht richtig im Kopf war. Diese komischen Stimmungsschwankungen, die merkwürdige Art, sich auszudrücken … Auf was ließ sie sich da womöglich ein, wenn er hier die Familienjuwelen verschenkte? Sie legte den Stein auf die Brücke zwischen ihnen.
»Das Ding ist doch nicht etwa wertvoll, oder?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
Der Junge nickte. »Doch, er ist sehr wertvoll«, sagte er ernst und Viola fuhr fast zusammen, als er ihr jetzt in die Augen sah. Sein Blick war betörend, fast hypnotisierend, aber Irrsinn lag nicht darin. Eher eine eigenartige Ruhe. »Er ist das Wertvollste, was ich besitze, ich werde lange suchen müssen, bis ich einen neuen finde. Aber er gehört trotzdem dir.«
Sanft, aber entschieden schloss er Violas Hand um den glatten, warmen Stein.
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