Ruf der Daemmerung
ja auch heute erst begriffen, was es bedeutete. »Jemand wie ich ... Vergiss es, Viola! Wir müssen auf deine Freundin hören ... Katja ...«
»Katja?«, fragte Viola verblüfft. »Was hat die denn jetzt damit zu tun?«
Ahi rieb sich die Stirn. »Sie hat zu mir gesprochen, bevor sie gefahren ist. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich dich umbringe, und sie hatte recht! Sie hat das Risiko erkannt und ich höre noch ihre Stimme: ›Wenn Vio es nicht schafft, musst du es beenden. Tu es, wenn du sie liebst.‹ Ich liebe dich, Viola. Und deshalb beende ich es jetzt.«
Er stand auf, etwas mühsam, offensichtlich noch unter Schmerzen.
Viola überlegte fieberhaft. Es durfte nicht zu Ende sein, er konnte sie nicht verlassen! Es musste andere Möglichkeiten geben ...
Inzwischen hatte es zu regnen begonnen und mechanisch zog sie den Schleier hinauf in ihr Haar. Und dann fiel es ihr ein: »Ein Kelpie in Menschengestalt bannt man mit einem Brautschleier. Falls da also Bedarf besteht ...« Patricks flapsige Bemerkung.
»Warte!«, sagte Viola mit fester Stimme.
Ahi blieb stehen.
»Warte, beweg dich nicht. Ich hab dich eben schon damit berührt. Du musst ...« Blitzschnell, bevor Ahi noch reagieren konnte, legte sie Ainnés Schleier um seinen Körper. Versuchte, ihn damit an sich zu ziehen. Er sollte bei ihr sein. Als Mensch.
Ahis Augen weiteten sich. Er schluckte. Dann sah er sie fest an. »Viola, willst du das? Willst du es wirklich?« Er streckte ihr die Hände entgegen, kreuzte sie, bereit, sich binden zu lassen. »Willst du mich dazu verurteilen, ein Mensch zu sein? Willst du mir mein Lied rauben, meine Seele? Ich trage keinen Schutzstein, Viola. Und ich wehre mich nicht. Also tu es. Aber ... aber sag mir nicht, dass du es aus Liebe tust!«
Viola ließ den Schleier los. Sie umfasste Ahi, ihr Kopf sank an seine Brust. Auch Ahi gab seine spröde Haltung auf, legte die Arme um sie - aber er konnte sie nicht mehr trösten. Viola wimmerte. Ahi weinte.
»Küss mich noch einmal!«, sagte er schließlich. »Aber dann muss ich gehen ...«
Viola hob den Kopf und bot ihm ihre Lippen. Sie spürte noch einmal die Kühle seiner Haut, die Sanftmut seines Kusses, ging ein letztes Mal in ihm auf und empfand seine unendliche Erleichterung und unendliche Liebe.
»Ich werde dich nie vergessen ...«, flüsterte Ahi.
Dann ließ er sie los. Viola stand wie erstarrt, während er rückwärts zum Wald ging und zwischen den Stämmen zu verschwinden schien. Und dann sah sie einen grauen Hengst, tastenden Schrittes, aber mit hoch erhobenem Haupt und wehender Mähne, auf das Ufer zugehen. Sie beobachtete, wie er die Hufe ins Wasser setzte, wie er schwamm - und plötzlich meinte sie, die Musik zu hören, mit der sein Volk ihn empfing. Einen Nachklang der Musik, ein Verwehen ... bevor sie sich so allein fühlte wie niemals seit ihrer ersten Berührung mit Ahi. Die Verbindung war zerbrochen.
Viola schluchzte. Weinend stand sie am Ufer des Sees.
20
Viola schaffte es irgendwann und irgendwie zum Campingplatz - wo Shawna schon in heller Aufregung begonnen hatte, sämtliche Taxiunternehmen anzurufen.
»Wo um Himmels willen warst du? Ich hab schon befürchtet, der Taxifahrer hätte dich verschleppt ...« Shawna blieb der Scherz im Hals stecken, als sie Violas Gesicht sah. »Mein Gott, Vio, was ist denn passiert?«
»Es ist aus!«, konnte Viola gerade noch flüstern, bevor sie wieder in Tränen ausbrach. »Er ... er geht zurück ...«
»Nach Dänemark?«, fragte Shawna betroffen. »Von jetzt auf gleich? Wegen dem blöden Spiel? Komm, Vio, da ist das letzte Wort sicher noch nicht gesprochen ...«
Unter tröstlichem Zureden führte sie Viola zunächst ins Bad, schleppte sie unter die heiße Dusche und brachte sie dann in ihr Zimmer. »Ich weiß ja nicht, ob das jetzt gesund ist«, überlegte sie, als sie dann mit einer Teekanne und Bills Whiskeyflasche zurückkam, »aber es wird dich schon nicht umbringen ... Ach komm, Vio, so schlimm kann's einfach nicht sein ... Du musst die Kette jetzt nicht abnehmen ... Bestimmt kommt er morgen wieder ...«
Viola ließ die Kette mit dem Amethysten schluchzend auf ihr Nachttischchen gleiten. Sie brauchte keinen Schutz mehr - und keine Erinnerungen. Ganz sicher würde sie niemals ein Kelpie reiten ...
Schließlich trank sie den Tee in kleinen Schlucken und überließ sich dann Shawnas tröstender Stimme. Die Freundin blieb bei ihr, bis sie einschlief. Und vielleicht war dieser furchtbare Tag ja wirklich
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