Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
weizenblonde Farbe dachte. Was war sie töricht gewesen! An sich hätte sie doch von selbst darauf kommen müssen, dass irgendetwas mit ihrer Herkunft nicht stimmte. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie als Einzige in der Familie blonde Haare hatte? Dass alle anderen diese blitzenden dunklen Augen hatten – nur sie nicht?
Versonnen starrte sie auf ihr Bettzeug und grübelte darüber nach, was ihre Abstammung ihr außer den blonden Haaren wohl sonst noch mitgegeben haben mochte. Jene sonderbare Gewissheit, dass bestimmte, ganz unerwartet auftretende Eingebungen der Wahrheit entsprachen – war etwa auch das ein Makel ihres Blutes? Oder lediglich ein Hinweis darauf, dass sie selbst nicht mit ihrer Vergangenheit im Reinen war?
Plötzlich fühlte Sophie sich verloren in einer ihr fremden Welt, steuerlos wie ein Schiff ohne Ruder, denn eines stand für sie fest: Weder gehörte sie hierher, in diese behagliche Geborgenheit, die ihr zur Gewohnheit geworden war, noch zu jenen Eltern, die sie vor achtzehn Jahren verstoßen hatten. Wie ein Kind rollte sie sich auf ihrem Bett zusammen und ließ diese entsetzliche Erkenntnis auf sich einwirken, nach Kräften bemüht, neue Ordnung in ihr Dasein zu bringen. Hieß das wohl, dass sie von nun an auf sich allein gestellt sein würde?
Und falls sie hier nicht länger willkommen war – wohin sollte sie sich wenden?
Ehe sie noch weiter über diese Frage nachsinnen konnte, ertönte von der Tür her ein sachtes Pochen. Als Sophie sich umdrehte, sah sie Hélène im Türrahmen stehen, das lange Haar entflochten und wie einen dunklen Schleier über die Schulter geworfen; eine Hand hatte sie schützend um eine flackernde Kerzenflamme gelegt.
„Ich wusste, dass du kein Licht hast“, sagte sie nach einer verlegenen Pause zur Erklärung.
Geraume Zeit schwebte der leise gesprochene Satz zwischen den beiden, während jede stumm zu ergründen versuchte, was die andere wohl gerade fühlte. Obwohl Gaillard nicht da war, klangen Sophie seine Worte so klar und deutlich im Ohr, als sagte er sie gerade ein zweites Mal. Sie zog die Knie an die Brust, unfähig, zu der Frau zu gehen, die sie so lang schon Ma man nannte.
Hélène schien Sophies Gedanken erraten zu haben, denn ihre Augen schimmerten feucht im Kerzenschein. Wie zur Entschuldigung hob sie die Schultern, als ringe sie vergebens nach Worten. Diese hilflose Geste ließ Sophie aufs Neue in Tränen ausbrechen. Dennoch konnte sie sich nicht rühren.
„Dass du die Wahrheit auf diese Weise erfahren musst, hätte ich dir von Herzen gern erspart“, murmelte Hélène stockend.
Sophie presste fest die Augen zusammen, weil sie bei diesem Geständnis von einer wahren Flut von Gefühlen erfasst wurde. Es stimmte also tatsächlich, sodass Sophie nun auch die letzte Hoffnung fahren ließ, Gaillard könne womöglich nur im Zorn gesprochen haben.
„Auf Dauer lässt sich die Wahrheit ohnehin nicht verheimlichen“, entgegnete sie mit einer Stimme, die auch nicht fester war als die der Älteren.
Noch einmal trafen sich beider Blicke für einen Wimpernschlag. Dann stand Sophie auf und streckte der Mutter die Hände entgegen. Rasch stellte Hélène die Kerze zu Boden, und Sophie warf sich in ihre Arme. Der Duft ihrer Haut rief eine Fülle von Kindheitserinnerungen wach. Dass diese Mutterliebe ihr von Stund an versagt sein sollte, ging über Sophies Kraft, und so weinte sie wie ein Kind. Denn jene Erinnerungen machten die Erkenntnis, das alles vorbei sein sollte, schier unerträglich.
„Ach, wie oft wollte ich es dir schon sagen“, flüsterte Hélène, wobei sie Sophie übers Haar strich und niedergeschlagen den Kopf schüttelte. „Doch ich wusste einfach nicht die rechten Worte zu finden.“ Sie löste sich, umfasste Sophies Kinn und blickte ihr in die Augen, als wolle sie sie zwingen, nicht beiseitezuschauen, trotz ihrer Tränen.
„Ich weiß, dass dir im Augenblick die Wahrheit von großer Tragweite erscheint“, fuhr sie mit sanfter Stimme fort, in der jedoch ein entschlossener Unterton mitschwang. „Nur eines vergiss nie, Sophie: Ich nährte dich an meinem Busen, als wärest du mein eigenes Kind, und als solches habe ich dich auch stets betrachtet.“
Sophie schluckte mühsam, ohne etwas erwidern zu können. Aufs Neue traten Hélène Tränen in die dunklen Augen, und wehmütig lächelnd schüttelte sie den Kopf.
Anscheinend hielt Hélène sie wahrhaftig für ihre eigene Tochter, und Sophie wunderte sich über die treulosen Gedanken,
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