Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
würde.
„Es heißt, im Norden pflege man noch die alten Sitten und Bräuche“, begann Hélène schließlich so widerstrebend, dass Sophie schon graute. „Es ist ein altes Ritual, am Maienabend die Wiederkehr der Sonne zu feiern.“
„Aber wir tanzen ja auch in den Mai“, warf Sophie verdattert ein, weil sie nichts Unschickliches an dieser Tradition finden konnte.
Hélène schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist bloß ein Schatten der Vergangenheit“, beteuerte sie. „Die Kirche hat nämlich vieles von dem abgeschafft, was den Patres missfiel.“ Sie glättete eine Falte des Überwurfes und zog erneut die Stirn kraus, als ringe sie nach den rechten Worten, um es sich leichter zu machen.
„Man glaubte, wenn die Maienkönigin selbst fruchtbar sei, so verheiße das auch Fruchtbarkeit für die Erde“, stieß sie auf einmal jählings hervor, viel heftiger, als es sonst ihre Art war. „Natürlich wurde dabei kaum etwas dem Zufall überlassen.“ Sie bedachte ihre Tochter mit einem scharfen Blick, und Sophie machte sich auf das Schlimmste gefasst.
„Es obliegt der Maienkönigin, in dieser Nacht der Nächte einem jedem, der ihr beiwohnen möchte, die Schenkel zu öffnen“, setzte sie nüchtern hinzu und wandte sich ab, um wie beiläufig die Decke glatt zu streichen.
Sophie kämpfte dagegen an, die Bedeutung hinter diesen Worten begreifen zu wollen. „Wozu denn das?“, brachte sie heiser hervor. Zwar ahnte sie schon die Antwort, wollte aber die Wahrheit in nackten Worten hören.
„Man deutete es als ein Zeichen göttlichen Segens für das Land, sollte sich herausstellen, dass die Maienkönigin nach jener Nacht guter Hoffnung ist.“ Hélène legte den Kopf schräg und wartete ab, wie ihre Tochter auf diese Erklärung reagierte.
Sophie stand auf und trat an die Fensteröffnung, die Wangen heiß und rot vor Scham. Ein Bastard bist du, Frucht eines ural ten heidnischen Brauches! Die Schande allein hatte ihre Mutter gezwungen, ihr Kind wegzugeben. Sophie war, als müssten ihr schier die Lungen bersten, so schnürte ihr diese Erkenntnis die Brust zusammen. Tief holte sie Luft und zwang sich dazu, nun auch den Rest der Geschichte zu verlangen. Eine zweite Gelegenheit würde sich ihr vermutlich nie mehr bieten.
„Du sagtest, das sei im Norden gewesen“, meinte sie, wobei sie ihre angespannte Stimme kaum wiedererkannte. „Wie kommt es dann, dass ich hierher in den Süden geraten bin?“
„Der Vorgänger von Father Reisac – er starb, als du kaum zwei warst – wusste, dass sich mein Herz nach einer Tochter verzehrte“, erklärte Hélène nach einigem Zögern. „Sein Cousin war Pfarrer in der Provinz Bretagne, und er war es auch, der ein Zuhause für das Kind suchte. Ein Heim für dich.“
„Kennst du den Namen meiner Mutter?“, fragte Sophie leise, während ihr Herz vor Anspannung schneller schlug.
„Nein“, entgegnete Hélène knapp, worauf Sophie sich umdrehte, überzeugt, dass die Ältere log. Als sie jedoch die Festigkeit in ihrem Blick bemerkte, verflog ihr Verdacht sofort.
Offenbar sollte sie über ihre leibliche Mutter nicht mehr erfahren, als dass sie eine Maienkönigin war, die ihren Auftrag erfüllt und ihr Kind anschließend aus Schande weggegeben hatte. Sophie sah, wie Hélène sich erhob und sie scharf musterte, als ahne sie ihre Enttäuschung.
„Jage nicht der Vergangenheit nach, Sophie, denn sie bringt dir nur Kummer und Leid“, riet Hélène mit leiser Stimme. Sophie konnte nur stumm nicken, wie betäubt von all den Enthüllungen dieses Abends. Lächelnd trat Hélène auf sie zu, umfasste wieder deren Kinn und küsste sie sanft auf beide Wangen.
„Nun schlaf, mein Kind. Morgen früh sieht alles schon besser aus.“
„Ja, Maman“, erwiderte sie wie selbstverständlich und sah, wie ein zögerndes Lächeln Hélènes Lippen umspielte.
„Schön, dich so sprechen zu hören“, wisperte sie, indem sie Sophie ein letztes Mal die Wange tätschelte.“ Und überlege dir, wen du morgen zum Abendmahl einladen möchtest: Gérard oder Rustengo.“ Mit diesen Worten wandte Hélène sich um, hob die Kerze auf und schlüpfte auf leisen Sohlen aus der Kammer.
Keinen von beiden!, rief Sophie ihr wortlos nach, während sie sich wieder auf ihrer Strohmatratze ausstreckte, bemüht, all das zu begreifen, was sie soeben erfahren hatte. Von Enttäuschung beinahe überwältigt zwang sie ihre Gedanken zu dem einzig angenehmen Erlebnis des Abends.
Ein Glück, dachte sie erleichtert, dass
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