Ruf der Toten
seinem eigenen Fotoapparat. Immer auf den Schädel drauf, dort, wo die grauen Haare die Glatze wie eine Zielscheibe umkreisten.
Er machte kehrt und sah zu, dass er der tropischen Hitze entkam. Verschwor sich die ganze Welt heute gegen ihn? Der Tag hatte beschissen begonnen. Er ging beschissen weiter. Es würde ihn nicht wundern, wenn er auch beschissen endete.
London
Tescos, der Supermarkt, lag einen Block von der Willow Road entfernt, fünfhundert Meter die abschüssige Straße hinab. Das war kein weiter Weg, nicht für London. Aber im Grunde befand man sich in Hampstead auch nicht mehr in der Stadt – Hampstead, auf einem Hügel nördlich von London gelegen, wahrte von jeher eine gewisse Distanz zur Metropole. Im Grunde war es ein georgianisches Dorf geblieben, und die Parklandschaft Hampstead Heath trennte wie eh und je den Vorort von Highate und unterstrich den Kontrast zum hektischen Leben in der Stadt.
Die pittoresken Straßen und der weitläufige Park boten sich für erholsame Spaziergänge und Wanderungen an, und genau das war für Beatrice ein entscheidender Grund gewesen, dem Drängen von Paul nach einer gemeinsamen Wohnung unweit des Hotels seiner Eltern nachzugeben.
Sie knöpfte ihre Jacke bis zum Kinn zu und atmete die frische Luft ein, die eine Brise vom Westen über die Stadt trieb. An manchen Tagen, wenn der Wind ganz besonders stark ging, glaubte sie, sogar das Meer zu riechen. Aber das war sicherlich nur eine Sinnestäuschung, die ihr das Heimweh vorgaukelte. Nicht, dass sie sich in London nicht wohl gefühlt hätte. Die unmittelbare Nähe zum Hampstead Heath war ein Glücksfall. Und bei Tageslicht betrachtet, erschienen ihr die Dispute mit Paul auch nicht weiter schlimm. Keine ihrer Freundinnen führte eine Traumbeziehung, überall kriselte es gelegentlich, festigte sich wieder – oder man trennte sich.
»Menschen kommen, Menschen gehen. Man muss das pragmatisch sehen«, war eine Leitformel von Elizia. Aber sie war ohnehin ein raffiniertes Luder, das es faustdick hinter den Ohren hatte. Beatrice schmunzelte in sich hinein und beschloss, sich in den nächsten Tagen mal wieder bei ihrer Freundin zum Tee einzuladen.
Sie passierte das North Side und winkte Miss Barkley, die gerade das kleine Vogelhäuschen in ihrem Vorgarten mit Brotkrumen füllte. »Guten Morgen, Miss Barkley«, rief sie.
Die verschrobene alte Dame watschelte heran und wackelte dabei mit ihrer steifen Hüfte wie eine Ente. Ihr Mann Arthur, ein ehemaliger General, hatte vor dreizehn Jahren das Zeitliche gesegnet und ihr eine anständige Witwenrente hinterlassen, dazu das Häuschen in der Willow Road, direkt neben dem Hotel. Miss Barkley hatte also viel Zeit, sich um Garten und Vogelhäuschen, insbesondere aber um die Vorgänge in der Nachbarschaft zu kümmern. Eine ihrer liebsten Beschäftigungen übte sie hinter der Fensterfront ihres schmalen Häuschens aus. Dort saß sie im Sommer wie im Winter in ihrem Lehnsessel, eine Tasse Tee auf dem Beistelltischchen, ein Stück Wolle auf dem Schoß, zwei Stricknadeln in den Händen. Ihre Finger bewegten sich mechanisch, und nur an dem stetig wachsenden Kissenbezug, Schal oder den Socken, die sie für ihre Enkel und Neffen strickte, erkannten Passanten und Touristen, die im The North Side nächtigten, dass es sich bei der Figur hinter der Glasscheibe nicht um eine menschengroße Puppe handelte.
»Hallo, mein Kind«, krächzte sie mit heiserer Stimme. Alle, die jünger waren als sie selbst, waren Kinder für sie. Das durfte man ihr nicht übel nehmen. Ihre Hand wies zum Himmel; ein graues Tuch, das verdächtig tief hing. »Das gibt heute noch Schnee. Muss die Vöglein füttern.«
Eine glatte Lüge; das Vogelhaus war nur ein Vorwand mehr für sie, nach draußen zu gehen und den erstbesten Nachbarn, der das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, in einen Schwatz zu verwickeln. Vielen Nachbarn grauste es davor, denn Miss Barkley hatte eine Gabe, gegen die niemand ein Gegenmittel wusste. Es sei denn, man wechselte die Straßenseite, sobald man die alte Dame im Garten werkeln sah.
»Recht so«, meinte Beatrice, die Miss Barkley in ihr Herz geschlossen hatte. Trotz aller Schnatterei war sie rührig und erinnerte sie an das Dorf, in dem sie inmitten vieler solcher gesprächiger alter Herrschaften aufgewachsen war. »Wir wollen doch nicht, dass die Vögelchen verhungern.«
»Nein, das wollen wir nicht«, bestätigte Miss Barkley. Sie neigte sich über die
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