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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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überschreiben.« Sie hatten einen Moment innegehalten. »Und natürlich sollst du auch deine bezaubernde Freundin Bea Anteil daran haben lassen…« Sein Vater hatte ihm zugezwinkert. »Denn schließlich wollen wir mit dem guten Gefühl abtreten, dass auch über die nächsten vierzig Jahre hinaus für den Fortbestand des North Side gesorgt ist.«
    Während Paul sich vor dem Badezimmerspiegel rasierte, stellte er sich Beas Gesichtsausdruck vor, wenn sie von der Hochzeit und den Plänen seiner Eltern erfuhr. Diesmal würde sie nicht ablehnen können. Das war ihre gemeinsame Chance, ihre Zukunft, ihr Leben. Diesmal konnte sie einfach nicht nein sagen.
    Als er mit dem Rasieren fertig war und noch immer nichts von Bea hörte, schnappte er den Wischeimer und nahm sich die Diele, das Badezimmer und die Küche vor. Er freute sich darauf, ihr erstauntes Gesicht zu sehen, wenn alles bereits erledigt war und sie gleich ins Science-Museum aufbrechen konnten.
    Irgendwann hatte er auch den letzten Winkel der Wohnung gewischt und stellte fest, dass beinahe zwei Stunden verstrichen waren. Kein Grund zur Besorgnis, sagte er sich, wahrscheinlich hatte Bea eine Freundin oder Nachbarin – Gott behüte, die schreckliche Miss Barkley – getroffen, und sie hatten sich verquatscht. Auch wenn Bea keine ausgesprochene Klatschbase war, so konnte es durchaus passieren, dass sie über einem guten Gespräch die Zeit vergaß. Es wäre nicht der erste Montag, an dem dies geschah.
    Nach einer weiteren halben Stunde, in der er die Betten neu bezogen und die frisch gewaschenen Sachen auf den Trockenständer gehängt hatte, wurde er unruhig. Er ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Vereinzelt eilten Menschen am Haus vorbei, die Kragen ihrer Jacken bis zum Kinn gezogen, weil sie sich nicht vor dem Weihnachtsfest noch einen Schnupfen einfangen wollten. Von Bea keine Spur.
    Weil ihm jetzt nichts mehr einfiel, was er noch hätte erledigen können, setzte er sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher und schaute sich ein paar Cartoons an. So recht konnte er sich nicht auf Bugs Bunny, Elmar Fudd und Duffy Duck konzentrieren. Immer wieder blickte er zur Tür. Seine Sorge wuchs von Minute zu Minute an. Inzwischen war eine weitere halbe Stunde vergangen. Sylvester machte sich gerade über Tweety her, da klingelte es an der Tür.
    Paul sprang erleichtert auf. Er war zwar ziemlich sicher, dass Bea vorhin ihren Schlüssel an sich genommen hatte, aber wahrscheinlich war sie nun voll bepackt mit Einkaufstüten – in zweieinhalb Stunden konnte man vermutlich den halben Laden leer kaufen. Er lächelte bei dem Gedanken an ihre Kochkünste.
    »Na, ich bin gespannt, was du heute Abend für uns zaubern…« Er hielt inne. Es war nicht Bea, die auf den Stufen stand. Es war Bart, sein Bruder. »Hallo Bart. Ich dachte, es wäre Bea.« Er trat zur Seite. »Komm rein.«
    Bart blieb auf den Stufen stehen und seine Hände rieben nervös aneinander; ein ungewohnter Anblick. Bart, so groß und kräftig wie ein Bär, mit roten Haaren und kurz geschorenem Bart, wirkte wie ein Ire. Mit Vorliebe verbarg er seine Muskelpakete unter Latzanzügen, wenn er nicht gerade an der Rezeption im The North Side stand und dazu repräsentativer wirkende Anzüge tragen musste. Es gab nur wenig, was ihn erschütterte – eine Niederlage des FC Liverpool zum Beispiel. Paul konnte sich nicht erinnern, seinen Bruder, den alle nur ›Bär‹ nannten, schon einmal so verzweifelt gesehen zu haben. Und jetzt fiel ihm auch auf, wie bleich Bart war. Als wäre er dem Leibhaftigen höchstpersönlich begegnet.
    »Was ist mit dir?«, fragte Paul besorgt.
    »Paul…«, begann Bart. Er bewegte sich keinen Millimeter, und er wagte es auch nicht, seinen Bruder anzuschauen. Ein Krankenwagen heulte ganz in der Nähe. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in Paul breit.
    Bart sagte: »Ich war gerade auf dem Weg zum Supermarkt… Ich habe… Es ist…«
    »Komm auf den Punkt«, drängte Paul, obwohl er in Wahrheit gar nicht hören wollte, was Bart zu sagen hatte.
    »Paul«, brach es schluchzend aus seinem Bruder hervor, »es ist Bea.«
    Obwohl Paul es geahnt hatte, traf es ihn mit voller Wucht. Er suchte Halt am Türrahmen. »Was ist mit ihr?« Seine Stimme hallte belegt, ganz fremd und wie von weit her in seinen Ohren.
    »Sie ist…«
    Seine Beine zitterten. »Ist sie tot?«
    Bart zuckte zurück. »Nein, um Gottes willen. Sie wissen nicht, was mit ihr ist. Vielleicht ein Schlaganfall. Vielleicht auch nicht.

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