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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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»Toll«, sagte er dennoch, konnte aber nicht vermeiden, dass es eher wie Lass mich doch in Ruhe! klang.
    Chris schrumpfte in sich zusammen. Enttäuscht nippte sie an ihrem Kakao und schwieg. Irgendwann sagte Sabine: »Also, ich glaube, ich mach mich dann mal auf den Heimweg.«
    Chris brachte sie zur Tür, die beiden Mädchen tuschelten miteinander und verabschiedeten sich dann. Nachdem sie zu Philip ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, hockte sie sich im Schneidersitz neben ihn. Sie nahm seine Hand zwischen ihre Finger und streichelte sie.
    »Also jetzt erzähl: Was ist los mit dir? War der Tag wirklich so beschissen?«
    Am liebsten hätte er ihr alles erzählt. Ausnahmslos alles. Aber sobald sich die Worte in seinem Kopf formten, klangen sie einfach nur unglaublich, absurd und irreal. Ich habe eine Münze aus dem Jahr 2018. Ich habe einen Geist gesehen. Rüdiger ist ermordet. In meiner Wohnung ist eingebrochen worden. Sonst noch was? Als wenn das nicht genügt hätte.
    Er drückte sich an sie und lauschte der Stille, die Treptow im eisigen Griff hielt. Von irgendwoher war das Rauschen der S-Bahn zu hören, aber das war schon alles.
    Das Herzstück von Treptow war eine ausladende Parkanlage, die parallel zur Spree verlief und den Anwohnern, ambitionierten Sonnenanbetern, Badmintonspielern und abendlichen Grillmeistern, im Sommer als Strandersatz diente. Im Winter blieb der Park leer, von den Hundebesitzern abgesehen. Die führten ihre Doggen kurz aus, bevor sie feststellten, dass ihnen die Zehen in den Schuhen allmählich gefroren. Deshalb zerrten sie an den Leinen, der Fernseher drinnen war verlockender als Lumpis ausufernde Schnüffelei im Gebüsch.
    Rabea schlich über die Couchlehne und maunzte einmal. Weil ihr niemand Beachtung schenkte, tapste sie ins Schlafzimmer. Chris nahm einen Schluck von ihrem Kakao, der inzwischen kalt sein musste. »Du hast mich heute Mittag angerufen«, sagte sie.
    »Weil ich deine Stimme hören wollte.« Das war nicht einmal gelogen, immerhin.
    »Von meiner Stimme hast du aber nicht viel gehört.«
    »Ich musste auflegen, war wichtig.«
    »Habe ich mir schon gedacht.«
    Jetzt würde sie gleich fragen, was es denn Wichtiges gegeben hätte. Sie fragte nicht. Wieder dehnte sich die Zeit, in der sie sich anschwiegen, zwischen ihnen aus. Er kratzte sich den Hinterkopf, der ungewohnt nackt war. Aber es fühlte sich auch gut an. Es war, als würde er endlich Luft bekommen, deren Zufuhr die Haare vorher abgeschnitten hatten. Sie verfolgte die Bewegung seiner Hände. »Wieso hast du dir die Haare abrasiert?«
    Weil mich so nicht jeder Polizist gleich erkennt! »Ich brauchte Veränderung«, sagte er. »Eine sichtbare Veränderung, verstehst du, etwas, was nach außen hin zeigt, dass sich was ändern wird bei mir.«
    »Aber eine Glatze?«
    »Warum nicht?«
    »Ich weiß nicht, ob das potentiellen Arbeitgebern Vertrauen einflößt.«
    Er hob die Schultern. »Ich wollte es, basta.«
    »Willst du heute noch zurück?«, fragte sie.
    »Wohin?«
    »In deine Wohnung, wohin sonst?«
    Fast hätte er gelacht. Natürlich, zurück in meine Wohnung, direkt in die Arme der Polizei… »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne bei dir bleiben.«
    »Aber Süßer!« Sie schubste ihn. »Warum sollte es mir was ausmachen? Ich hab dich gerne bei mir.«
    Sie legten sich aufs Bett und Chris schmiegte sich an ihn. Rabea krabbelte über die Decke und schnurrte wie ein Motor, der gleichmäßig lief. Irgendwann hatte sie ihre Krallen genug geschärft, sie rollte sich ein und legte sich in eine Mulde zwischen ihnen.
    So blieben sie eine Weile liegen, hielten sich im Arm, ließen das Gefühl der Nähe aufeinander wirken, bis Chris irgendwann fragte: »Freust du dich denn nicht, dass ich mir endlich ein Brustwarzenpiercing machen lasse? Du warst doch immer begeistert von der Vorstellung?«
    »Doch, natürlich…«
    »Aber?«
    »Nichts aber«, erwiderte er. »Wie du dir vielleicht denken kannst, habe ich im Moment andere Probleme.«
    »Tut mir Leid. Ich weiß doch…«
    »Nichts weißt du«, fuhr er auf und verstummte. Er vermied es, sie anzusehen, ziellos schweifte sein Blick im Schlafzimmer umher. Die Jalousien waren heruntergelassen, trotzdem fand das Blinken der Warnleuchten auf dem Dach des Allianz-Towers einen Weg durch die Lamellen. An der Wand erhob sich ein rustikaler Kleiderschrank, der mit seinen Ornamenten und Kupferbeschlägen tagsüber auf Betrachter wirkte wie ein massives Ungetüm aus einem Zeitalter

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