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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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einige Sekunden, bevor er antwortete. »Monate. Jahre.«
    »Das ist absurd«, widersprach Comistadore. »Sie werden mit eigenen Augen sehen, diese Frau…«
    »Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass diese Frau wieder laufen kann«, fiel Cato ihm ins Wort. »Aber wer sagt mir, dass sie es vorher nicht konnte?«
    »Nun, zum Beispiel ich!«, antwortete Comistadore im Brustton der Überzeugung. Er lehnte sich zurück, als gäbe es auf seine Behauptung nichts zu entgegnen. Die Soutane spannte sich über der Wölbung seines Bauches.
    Cato lächelte bitter. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sind nicht der Richtige, um diese Angelegenheit zu beurteilen.«
    »Und Sie sind es?« Die Nase des Priesters zuckte widerspenstig, was den Eindruck, einem Nagetier gegenüberzusitzen, noch verstärkte.
    »Selbstverständlich.«
    Cato trank den letzten Rest des Orangensaftes. Er leckte sich über die Lippen, die immer noch trocken waren. Wenn man in diesen Breitengraden lebte, musste man sich damit wohl abfinden. »Kennen Sie die Kriterien von Lambertini?«
    Das Frettchen schenkte Saft nach. »Sollte ich?«
    Cato sog die Luft geräuschvoll ein. »Ja, als Priester sollten Sie das!«
    »Mag sein, dass ich während meines Studiums davon gehört habe. Aber wie Sie sicherlich wissen, arbeite ich seit zwei Jahrzehnten in Trujillo, und für die Leute hier sind derartige Dinge ohne Bedeutung.«
    Was ich dir aufs Wort glaube, dachte Cato. Laut sagte er: »Es würde zu weit führen, sie Ihnen hier und jetzt zu erläutern. Nur so viel: Damit eine Heilung als Wunder anerkannt wird, fordern die Kriterien von Lambertini, dass die Krankheit schwer, organisch und eindeutig diagnostiziert war; die Genesung muss schlagartig, vollkommen und endgültig sein.«
    »Das wird ihr Arzt bestätigen!«
    »Sie meinen den alten Quacksalber?«
    Das Frettchen runzelte die Stirn. »Sie kennen ihn?«
    »Ich habe von ihm gehört«, erwiderte Gato. Du würdest dich wundern, was ich noch alles aus deiner Akte weiß!
    »Er ist ihr Arzt«, betonte Comistadore.
    »Aber sein Urteil wird nicht ausreichen, diese Heilung als Wunder anzuerkennen. Es ist eine objektive, strenge Prüfung durch naturwissenschaftliche Experten notwendig.«
    »Und warum schickt man mir dann Sie?«
    Cato setzte das Glas mit einer energischen Bewegung auf dem Tisch ab. »Man schickt mich, damit ich objektiv und streng prüfe, ob eine objektive und strenge wissenschaftliche Prüfung überhaupt vonnöten ist.«
    Das war eine glatte Lüge, aber die Zeit war noch nicht reif für die Wahrheit. Er brachte einen Streifen Kaugummi zum Vorschein, schob ihn sich zwischen die Lippen und sagte: »Und jetzt möchte ich mir die Kapelle näher ansehen.«
     
     
    In der kleinen Kirche war es dunkel und angenehm kühl. Cato genoss die Frische und atmete tief durch. Dann ließ er das gusseiserne Portal verriegeln und setzte sich auf eine der Holzbänke, wo er geduldig zusah, wie die Zeit verrann. Nur das Knirschen seiner Kiefer, während sie den Kaugummi bearbeiteten, durchbrach hin und wieder die Stille.
    Die Steinstatue im Altarchor, von deren Wangen die dunkelroten Spuren der Tränen langsam abbröckelten, ließ er nicht aus den Augen. Nicht dass er erwartet hätte, die Heilige Mutter würde in seinem Beisein erneut blutige Tränen vergießen. Zugegeben, das Blut auf den Wangen der Madonna war ein eindrucksvoller Anblick, der die einfachen Menschen in diesem armseligen Winkel der Erde – für die der Glaube ohnehin ihr einziger Besitz war – noch viel mehr in seinen Bann schlagen musste als ihn. Gerade das aber war das Problem. Erscheinungen wie diese zogen unvermeidlich windige Geschäftsleute an, Scharlatane und Betrüger, die den Menschen auch noch den letzten Rest ihres Hab und Guts raubten – und obendrein ihre Würde.
    Dabei erwiesen sich die meisten ›Wunder‹ nach eingehender Begutachtung, die Cato im Auftrag der römischen Kurie vornahm, als durchaus irdischen Ursprungs. Somit war es nicht zuletzt seinem wiederholten Einsatz zu verdanken, dass solche Erscheinungen offiziell kirchlich-kanonisch gar nicht erst anerkannt wurden.
    Gleichwohl, das Besondere an dieser Erscheinung war, es war nicht die einzige in Trujillo geblieben. Zur gleichen Stunde, da die Heilige Mutter ihre Tränen vergossen hatte, war anscheinend eine alte Frau, die mit ihrem klapprigen Rollstuhl in der Kirche saß, von ihrer Krankheit geheilt worden.
    Das alles hätte man gewiss ohne Probleme in den Griff bekommen, da war sich

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