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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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atmeten sie auf. Auf seinem Schoß lag ein undefinierbares Wollknäuel, aus dem langsam ein Köpfchen mit unwillig zugekniffenen Äuglein wuchs. Rabea war alles andere als glücklich über die plötzliche Betriebsamkeit. Doch der Wunsch der Perserkatze nach Ruhe war augenscheinlich vergeblich.
    »Philip!«, rief Chris und wusste gar nicht, was sie ihn zuerst fragen sollte. Warum, zum Teufel, er hier im Dunkeln hockte?
    Warum er überhaupt da war, anstatt sich wie üblich abends mit ihrem Bruder im Habana zu treffen? Oder was er, verflixt noch mal, mit seinen Haaren angestellt hatte?
    Sabine nahm ihr die Entscheidung ab. »O Mann, Philip, warum hast du dir eine Glatze geschoren?«
    Rabea gähnte und entblößte dabei eine Reihe spitzer Zähne, die ahnen ließen, von welchem Raubtier sie abstammte. Philip brummelte ohne aufzublicken: »War mal Zeit dazu.«
    Die beiden Mädchen warfen sich einen unschlüssigen Blick zu. Ratlos zuckten sie mit den Achseln. Chris gab ihrem Freund einen Kuss, den dieser halbherzig erwiderte. »Ich mach dann mal den Kakao«, sagte sie. »Philip, möchtest du auch einen?«
    Er schüttelte den Kopf. Für einen Augenblick schien sich der Frost von draußen in das Wohnzimmer geschlichen zu haben. Eisiges Schweigen erfüllte den Raum, und Sabine beeilte sich zu sagen: »Warte, ich komme mit dir.«
    Sie folgte ihrer Freundin in die Küche. Rabea streckte sich und sprang hinterher, als die Mikrowelle zu surren begann. Es klang wie ein Dosenöffner. Das Murmeln der Mädchen gesellte sich dazu, doch Philip verstand nicht, was sie erzählten. Wahrscheinlich sprachen sie über ihn, aber das interessierte ihn herzlich wenig. Er wollte nur hier auf der Couch sitzen und zur Ruhe kommen. Er bemühte sich, all die Ereignisse der letzten zwei Tage in einen logischen Zusammenhang zu bringen: die Frau auf dem Kudamm, die Münze, Rüdigers Tod, das Chaos in seiner Wohnung – er wollte eine ordentliche, hieb- und stichfeste Abfolge: Problem, Spuren, Beweise, Auflösung, jedes Teilchen säuberlich etikettiert und in der richtigen Schublade.
    Die Mädchen kehrten mit ihren dampfenden Tassen zurück und ließen sich neben ihm nieder. Rabea strich um ihre Knöchel.
    »Wie war es mit der Jobsuche?«, fragte Chris, während ihre Finger das Fell des kleinen Pelztigers streichelten.
    Philip verzog die Lippen. »Nicht so toll.«
    »Scheiße!«, meinte Sabine. »Ist wahrscheinlich nicht die beste Zeit, um sich einen Job zu suchen?«
    »Wahrscheinlich nicht«, gab Philip zurück.
    Wieder sahen sich die Mädchen an. Chris sagte: »Was meinst du, Philip, eigentlich wollten wir gleich ins Kino. Magst du mitkommen?«
    »Danke, nein.«
    »Keine Lust auf den Herrn der Ringe? Das lenkt dich bestimmt ab.«
    Genau das wollte er nicht – Ablenkung. Er wollte seinen Verstand schärfen, einen klaren Gedanken fassen. Und noch viel wichtiger, er musste einen Ausweg aus seiner verzwickten Lage finden. »Ich sagte nein.«
    Chris zuckte zusammen. Rabea machte einen erschrockenen Satz und rannte gurrend ins Badezimmer, wo sie kurz darauf im Katzenklo zu scharren begann. Sabine legte Chris beschwichtigend eine Hand aufs Bein. »Ich kann das verstehen, wenn Philip keine Lust hat. Hätte ich in seiner Situation auch nicht.«
    »Geht doch ohne mich«, schlug er vor.
    »Ach…«, sagte Chris enttäuscht. »Das ist doch auch blöd, jetzt, wo du hier bist.«
    »Dann gehen wir halt ein anderes Mal ins Kino«, meinte Sabine. »Es zwingt uns ja keiner, den Film heute zu sehen. Der Tag war aufregend genug.« Sie stieß Chris an, die sich über die unsanfte Behandlung beschweren wollte. Dann kapierte sie. »Ja, genau«, sagte sie. »Das war witzig heute. Und stell dir vor, Philip, nach der Vorlesung waren wir im Piercingstudio…«
    »… und ob du’s glaubst oder nicht«, sprang ihr Sabine bei, »wir haben einen Termin.«
    Die beiden Mädels sahen ihn erwartungsvoll an, auf ihren Wangen glühte Stolz. Er bemühte sich, Interesse zu zeigen, aber es wollte ihm nicht gelingen. »Und?«
    »In drei Wochen lassen wir uns die Brustwarzen stechen«, strahlte Sabine.
    »Was sagst du jetzt?«, sagte Chris und wuchs beinahe um mehrere Zentimeter in die Höhe.
    Philip wusste, an jedem anderen Tag wäre er seiner Freundin um den Hals gefallen. Schon seit Monaten hatte sie ihn ganz wild gemacht mit der Vorstellung, sich einen dieser erotischen Bruststecker stechen zu lassen. Als er aber jetzt davon erfuhr, verspürte er keine Erregung bei dem Gedanken daran.

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