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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Hausarzt zu sein. Paul hatte ihn verständigt, nachdem er Elonard so unsanft aus dem Hotel komplimentiert hatte. Ridgefeld stellte Beatrice einige Fragen zu ihrer Vergangenheit, und sie antwortete, so ausführlich sie konnte – nämlich gar nicht.
    Nach einer Stunde packte der Arzt seine Medizintasche zusammen und meinte: »Sie haben eine so genannte retrograde Amnesie, eine rückwirkende Erinnerungsstörung.«
    »Hören Sie auf, in Rätseln zu sprechen«, beschwerte sich Paul.
    »Nun, Herr Griscom, eine retrograde Amnesie ist ein Gedächtnisverlust für den Zeitraum vor Eintreten des schädigenden Ereignisses. Das bedeutet, die im Gedächtnis gespeicherten Bilder oder Zusammenhänge können von Ihrer Freundin nicht in ihr Bewusstsein geholt werden. Es gibt unterschiedliche Formen der retrograden Amnesie, manchmal werden eine oder zwei Stunden verdrängt, manchmal Monate, manchmal ganze Jahre. Letzteres scheint bei Ihrer Freundin der Fall zu sein.«
    »Und wie lange hält das an?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, entgegnete der Arzt. »Bei manchen Menschen kehrt nach ein paar Tagen die Erinnerung zurück, andere quälen sich über Monate mit Lücken im Gedächtnis herum und müssen sich nach und nach an ihre Vergangenheit herantasten. Und noch andere…« Er hob die Schultern.
    »Was können wir tun?«, wollte Paul wissen.
    »Ihre Freundin braucht sehr viel Ruhe und Schlaf, um den Schock zu überwinden«, erklärte Ridgefeld.
    »Welcher Schock?«, fragten Beatrice und Paul wie aus einem Munde.
    Ridgefeld wandte sich erneut an Paul, als sei mit ihrer Gedächtnisstörung auch ihre Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, verloren gegangen. »Ihre Freundin hat eine Amnesie erlitten. In den meisten Fällen geht einer derartigen Störung ein Unfall voraus, ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Gehirnerschütterung, manchmal ein epileptischer Anfall, seltener Migräne oder eine Vergiftung. Aber all das scheint mir, wie ich Ihren Schilderungen entnehme, nicht der Fall gewesen zu sein. Bleibt im Grunde nur eine letzte mögliche Ursache für eine Amnesie: ein traumatisches Erlebnis.«
    »Und Sie halten meine Nahtoderfahrung für ein solches Trauma?«
    »Durchaus«, stimmte der Arzt ihr zu. »Wobei ich den Begriff Nahtoderfahrung vermeiden möchte. Er ist in der Medizin leider sehr einseitig belegt. Nennen wir es… vorübergehenden Herzstillstand.«
    »Und was werden Sie unternehmen?«
    »Ich werde nach der Rückkehr in meine Praxis Dr. Martensen vom Hampstead Medical High kontaktieren. Ich muss über die Ereignisse vom Montag genauestens Bescheid wissen, um morgen weitere Tests mit Ihrer Freundin durchzuführen.«
    »Ist das unbedingt notwendig?«, protestierte Paul.
    »Das ist es, damit ich Ihre Freundin anschließend an einen erfahrenen Spezialisten überweisen kann.«
    Beatrice zog es vor, nicht länger zuzuhören, wie vollkommen Fremde über ihre Gesundheit beratschlagten. Die Stimmen drangen als gedämpftes Murmeln zwar an ihre Ohren, nicht aber in ihren Verstand, stattdessen beobachtete sie die drei – den offenbar immer wütenden Paul, seinen Bruder Bart, der in seinem Latzanzug wie ein urtümlicher Koloss wirkte, und Dr. Ridgefeld.
    »Geht es dir gut?«, fragte Paul, dem ihr Schweigen schließlich doch noch aufgefallen war.
    »Es ist alles in Ordnung«, entgegnete sie.
    »Möchtest du dich hinlegen?«
    »Ich bin nicht müde.«
    »Aber du hast gehört, was Dr. Ridgefeld gesagt hat.« Paul sah Hilfe suchend zu dem Arzt. »Du musst dich schonen.«
    »Ich bin aber nicht müde.«
    »Vielleicht solltest du dich für eine Weile hinlegen«, fuhr Paul fort, als habe er sie gar nicht gehört. »Es wird dir gut tun. Du wirst dich besser fühlen, glaube mir.«
     
     
    Beatrice hatte sich auf keine weitere Diskussion einlassen wollen; wenn diesem Paul denn so viel daran lag, legte sie sich halt hin. Sie war nicht unglücklich darüber, dem medizinischen Kriegsrat entkommen zu sein. Wie sie erwartet hatte, konnte sie nicht einschlafen. Ihre Situation war nicht dazu angetan, ihr die nötige Ruhe zu geben. Sie richtete sich auf, in die Kissen gestützt, und im Spiegel über der Frisierkommode erblickte sie flüchtig ihr Bild, eine wachsbleiche Erscheinung mit kahl rasiertem Kopf. Sie hatte nur den Wunsch, sich von diesem Bild zurückzuziehen und es ihm alleine zu überlassen, die Rolle zu spielen, die alle von ihr erwarteten, nämlich die der alten Beatrice. Das sollte sie sein?
    Und damit begannen die Fragen erst. War das Häuschen

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