Ruf der Toten
hätte ihre Mutter sie nie zur Welt gebracht.
Mama, warum hast du mich verlassen?
Erneut dieser Gedanke, der sie verfolgte. Wer war ihre Mutter? Wer ihre Eltern?
Als sie ihren Fuß eine Stufe tiefer setzte, knarrte das Holz unter ihrer Sohle. Die Stimmen im Wohnzimmer verstummten abrupt, eine Tür flog auf und zwei Köpfe kamen zum Vorschein.
»Bea?«, rief Paul.
Sie stand zur Salzsäule erstarrt.
»Ich möchte zu meiner Mutter«, sagte sie dann.
Paul sah sie irritiert an. »Zu deiner Mutter?«
Sein Blick verwirrte sie. »Was ist falsch daran?«
»Nun, ich meine… ähm, es ist…«, stammelte er. »Wieso fragst du nach ihr?« Er musterte sie eindringlich.
»Weil ich mich nicht an sie erinnern kann.«
»Willst du nicht ins Wohnzimmer kommen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Danke, ich wüsste nur gerne, was mit meiner Mutter ist.«
»Bist du dir sicher, dass du nicht lieber zu uns…«
»Nein!«, schnitt sie ihm das Wort ab. Paul trat zu ihr auf den Flur, Bart zog sich ins Wohnzimmer zurück und schloss die Tür.
»Nun«, sagte Paul, als sie allein waren, »deine Eltern leben nicht mehr.«
Bea traute ihren Ohren nicht. »Das ist vollkommen unmöglich.«
»Aber es ist wahr. Sie sind bei einem Unfall ums Lebens gekommen, da warst du drei Jahre alt. Aufgewachsen bist du bei deiner Tante.«
»Wie heißt sie?«
»Angela-Maria.«
»Angela-Maria«, wiederholte Beatrice, aber der Name blieb ihr fremd.
»Sie lebt in der Nähe von Lindisfarne.«
»Wo liegt Lindisfarne?«
»Es ist ein kleiner Ort an der Nordseeküste, hast du das etwa ver…« Verlegen hielt er inne. »Was hast du vor?«
»Ich möchte mit meiner Tante reden.«
»Bea, du weißt, was der Arzt…«
»Nein!«, unterbrach sie abermals.
Paul sah sie stirnrunzelnd an.
»Ich möchte sie besuchen, jetzt sofort.«
»Aber…«
»Kannst du dir vorstellen, wie es ist, sich an nichts erinnern zu können, an gar nichts? Ich kann mich nicht an Hampstead erinnern, nicht an das Hotel, nicht an dieses Haus, nicht an deinen Bruder und auch an dich nicht! Ich weiß nicht, wo ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich zur Schule gegangen bin. Meine ganze Erinnerung ist ausgelöscht – nur ein Gedanke schwirrt mir seit Tagen im Kopf herum: Mutter!« Sie dachte an die geisterhafte Prozession der Kinder, die sie beobachtet hatte, aber davon erzählte sie nichts. Stattdessen sagte sie: »Und jetzt höre ich, dass sie gar nicht mehr lebt. Weißt du, wie ich mich dabei fühle? Leer. Ausgebrannt. Wie tot.« Sie klatschte in die Hände. Und fügte dann hinzu: »Ach, ich vergaß, ich war ja schon tot.«
»Bea«, stieß er hervor. »Jetzt, wo du wieder bei mir bist, möchte ich nicht, dass du wieder verschwindest. Du musst dir einfach nur Ruhe gönnen, dann wird alles wieder gut.«
»Wann wird alles wieder gut? Morgen? Übermorgen? In zwei Wochen? In einem Jahr? Du hast gehört, was der Arzt sagte. Es kann Jahre dauern. Nein, Paul, darauf kann ich nicht warten. Das Gefühl macht mich wahnsinnig.«
»Warum aber deine Tante? Ich glaube nicht, dass sie dir helfen kann. Du hast sie seit vielen Jahre nicht mehr gesehen.«
Beatrice hatte plötzlich einen Einfall. »Habe ich ein Bild von ihr?«
Missmutig knurrte Paul. »Was soll das?«, fragte er und streckte die Arme aus. »Komm zu mir. Lass mich dir helfen, und alles wird gut.«
Sie erstarrte. Sie hatte die Worte der alten Frau nicht vergessen, und dass ausgerechnet Paul sie jetzt verwendete, bekräftigte sie nur noch mehr in ihrem Entschluss.
»Das Foto!«, wiederholte sie.
Er rannte die Treppen hinauf, sie hörte es rascheln, dann kam er mit einem Foto zurück. Beatrice brauchte nur einen kurzen Blick darauf werfen. Es war, wie sie erwartet hatte. Die Frau auf der Fotografie war zwar ungleich jünger, trug noch nicht so viel Gram und tiefe Falten, aber die Ähnlichkeit zu der alten Dame von letzter Nacht war unübersehbar.
»Und jetzt?«, wollte Paul wissen.
»Ein Gefühl sagt mir, wenn ich mehr über mich und mein Leben erfahren möchte, dann muss ich zu meinen Wurzeln zurückkehren – meiner Kindheit. Und wer könnte mir da eine bessere Hilfe sein als diese Tante?«
Paul sann nach. »Okay«, sagte er nach einer Weile, die sie sich schweigend in der Diele gegenüberstanden. »Dann fahren wir nach Lindisfarne.«
»Ich fahre nach Lindisfarne.«
»Was soll das heißen?«
»Paul, ich möchte alleine fahren.«
»Das kannst du nicht machen, nicht nach allem, was passiert ist.«
»Paul, bitte nimm
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