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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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weckte. Was dachte sich dieser Landstreicher bloß dabei, mit einem Einkaufswagen einfach so durch den Hampstead Heath zu marschieren? Wann würde die Polizei endlich dafür sorgen, dass dieses Pack dem Park fernblieb? Arthur, Gott habe ihn selig, hätte den örtlichen Behörden kräftig Beine gemacht, doch eine alte allein stehende Dame wie sie nahm leider niemand mehr ernst.
    Miss Barkley erkannte, dass der Landstreicher in Begleitung war – und je näher die beiden mit ihrem rasselnden Gefährt ihrer Fensterscheibe kamen, umso mehr packte sie der Ärger. Fehlte nur noch, dass die beiden Halunken vor ihrem Garten stehen blieben und – nicht auszudenken – auf den Rasen pinkelten. Das war schon einmal passiert, abends, als drei betrunkene Burschen sie hinter der Scheibe entdeckt und ihr Grimassen geschnitten hatten und zu guter Letzt die Hosen runterließen und in ihre Tulpen… Mrs. Barkley schüttelte sich.
    Dann stellte sie fest, dass es sich bei der zweiten Person um eine Frau handelte. Eine Frau, deren Kopf nahezu kahl war, wie sie missbilligend zur Kenntnis nahm, aber die Haltung, die geschwungenen Linien ihrer Wangen, die hohe Stirn – das war doch unmöglich! Sie war doch… tot?
    Plötzlich war es bitterkalt im Raum. Mrs. Barkley saß starr in ihrem Sessel, und ihr Herz galoppierte davon, bis sie glaubte, jeden Augenblick wegen eines Herzinfarkts umzukippen und ins Krankenhaus – das Hampstead Medical High, o nein! – eingeliefert werden zu müssen, noch bevor sie irgendjemandem hatte Bescheid sagen können, dass sie genau dorthin eigentlich nicht mehr wollte.
    Bart Griscom erkannte Miss Barkley von der anderen Straßenseite, wie immer, wenn er sie hinter ihrer Scheibe hocken sah, kochte er innerlich. Wenn sie wenigstens nur geglotzt hätte! Doch Abend für Abend rannte sie rüber zu Tescos und informierte die halbe Stadt über das, was sie am Tage in Erfahrung hatte bringen können. Um ehrlich zu sein: Er hasste diese geschwätzige alte Schachtel wie die Pest und glaubte nicht, dass er nur ansatzweise irgendetwas mit ihr gemeinsam hatte.
    Er würde es nie erfahren, aber in dieser Stunde teilte Bart Griscom eine Menge mit Miss Barkley – nämlich den Schrecken, der in seine Glieder fuhr.
    Er stand an der Rezeption des › The North Side‹; die niemals endende Kette von Wünschen der Hotelgäste, die ihm an anderen Tagen schon mal auf die Nerven ging, nahm er heute als willkommene Ablenkung, endlich einmal nicht an die tragischen Vorfälle der letzten Tage denken zu müssen. Er reichte einem älteren Ehepaar aus Deutschland die Formulare, die sie vor Bezug ihres Hotelzimmers auszufüllen hatten, und ließ das Klemmbrett mit den Zetteln fallen, als ein unglaublich dreckiger Penner an den Tresen trat. Er stank nach Abfall, Alkohol und Urin; auch das deutsche Paar rümpfte die Nasen.
    Bart setzte zu einer unflätigen Bemerkung an, als der Stadtstreicher etwas sagte, was ihn umgehend verstummen ließ: »Bring euch Beatrice!«
    Erst glaubte Bart, sich verhört zu haben, was nicht ungewöhnlich gewesen wäre, nicht nach all dem, was geschehen war. Dann entdeckte er die kleine, zierliche Person hinter der verwilderten Gestalt.
    »Beatrice?« Bart brachte nur dieses eine Wort heraus, aber es enthielt Schrecken, Verwunderung und grenzenlose Freude in einem. Im gleichen Augenblick erreichte ihn eine Stimme von der Eingangstür.
    »Bart!«
    Paul stürmte in die Vorhalle. »Bart, ich habe sie gesehen, ich habe sie gerade…«
    Er verstummte, denn er sah das Gesicht seines Bruders, auf dem sich eine Mischung aus abgrundtiefem Unglauben und himmelhoch jauchzender Euphorie spiegelte.
    »Ich weiß«, meinte Bart nur.
    Paul blieb irritiert stehen. »Was weißt du?« Dann wanderte sein Blick von Bart zu dem Ehepaar, das leisen Schrittes ein wenig zur Seite trippelte, weil sie ahnten, das etwas im Gange war, was gleich einen Höhepunkt finden würde, und von dort zu dem Landstreicher und…
    »Bea!«
    Mit einem Satz stand Paul vor seiner Freundin und wollte sie in seine Arme nehmen, ihr Gesicht zwischen seine Hände betten, sie küssen, sie schmecken, sie riechen, sie einfach halten und nie wieder hergeben – doch bekam er sie nicht zu fassen. Sie entzog sich ihm und musterte ihn stattdessen wie einen Fremden, langsam und von oben bis unten. Ihre Miene war ein einziges Fragezeichen.
    »Bea«, rief Paul entsetzt. »Was ist los mit dir?«
    Der zerschlissene Mann neben ihr räusperte sich. »Sie hat ihr Gedächtnis

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