Ruf der Toten
verloren.«
Pauls Kopf flog herum, als habe der Landstreicher ihm eine unfassbare Beleidigung entgegengeschmettert. »Wer zur Hölle sind Sie?«
Elonard duckte sich. »Ich bin Elonard, aber Freunde nennen mich Elmi.«
»Also gut… Elonard, wie… ich meine, was haben Sie mit Beatrice gemacht?«
»Nichts habe ich gemacht«, antwortete er zögerlich.
»Was erzählen Sie da also?«
»Beatrice kann sich nicht erinnern.«
Paul sah seine Freundin an. »Bea, stimmt das? Ist es richtig, was er sagt? Du kannst dich nicht erinnern?«
Beatrice’ Lippen öffneten sich langsam, beinahe in Zeitlupe: »Sie müssen Paul sein, oder?«
Paul fühlte sich, als habe seine Freundin ihm eine Bratpfanne einmal mit ganzer Kraft ins Gesicht geschlagen. Er starrte sie konsterniert an. »Du weißt nicht, wer ich bin?«
Sie schüttelte den Kopf. Früher einmal wären ihre langen schwarzen Haare übermütig umhergeflogen. »Ich hab in der Zeitung gelesen, dass Sie… dass du von mir… vom Hotel.«
»Das muss ein schlechter Scherz sein«, entfuhr es Paul.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Er erinnerte sich noch gut an diesen Satz. »Was haben Sie mit dir gemacht? Was ist bloß passiert?«
Bart schaltete sich ein: »Ich glaube, wir sollten einen Arzt aufsuchen.«
»Kein Arzt«, nuschelte Elmi mit heisererer Stimme.
»Was soll das denn heißen?«, fauchte Paul ihn an. Alle im Raum zuckten zusammen. Das deutsche Pärchen stand inzwischen im Durchgang zur Küche und verfolgte das Geschehen mit großen Augen.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Paul.
»Er ist mein Freund«, antwortete Beatrice leise. Instinktiv machte sie einen Schritt zurück, weg von dem tobenden Mann, der vorgab, ihr Freund zu sein.
Paul stand wie angewurzelt. »Dein Freund?«
»Er hat mir geholfen.«
»Fein«, brüllte Paul »Und nachdem er dir geholfen hat, kann er jetzt ja gehen. Vielen Dank, Elmi, dass Sie Bea hierher gebracht haben. Aber jetzt…«
»Paul!«, rief Bart.
»Nein«, protestierte Beatrice.
Doch Paul schob den Landstreicher bereits durch die Vorhalle nach draußen, zurück in die Kälte. Elonard wehrte sich nicht. Er schaute nicht einmal zurück.
Beatrice wollte nicht glauben, was sie sah. Das sollte ihr Freund sein? Ihr fehlte jede Erinnerung daran. Aber sie spürte deutlich, etwas war falsch. Wer immer Paul war, er kam ihr fremd vor. Fremder als Elmi, den sie doch erst einen Tag kannte.
Berlin
Es war noch nicht lange her, da hatte Philip seinem Leben eine neue Richtung geben wollen. Er hatte es ernst gemeint damit, er erinnerte sich an den Gedanken, als wäre er ihm erst vor ein paar Minuten durch den Kopf gegangen.
Jetzt war es Mittwochmittag, und Philip stand auf der Straße. Heimgesucht von irrwitzigen Albträumen, die keine waren. Gefeuert von seinem Chef. Aus der Wohnung geworfen von seiner Freundin. Verfolgt von der Polizei, die ihn für einen Mörder hielt. Und auch das Wetter kannte kein Mitleid, es musste der kälteste Dezember seit Menschengedenken sein. Piss die Wand an, die Bilanz der zurückliegenden Tage war nicht einfach nur ernüchternd, sie war erschreckend.
Philip verbrachte den Tag zusammengesunken in einem Cafe, dessen Namen er gleich nach dem Eintreten wieder vergessen hatte, gequält von den eigenen Gedanken. Er versuchte, das Prinzip zu verstehen, das hinter allem verborgen lag. Er wollte nicht an seinen Sinnen zweifeln. Er hatte keinen Anlass zu der Vermutung, die höllische Szene in der Redaktion, die er nach seiner Rückkehr aus dem Archiv mitverfolgt hatte, könnte nicht real gewesen sein. Gerade hier lag ja sein Problem – Dehnen war tot, unumstößlich, und die Polizei suchte Philip als seinen Mörder.
Sein Handy klingelte. Unbekannter Teilnehmer, meldete das Display. Unwahrscheinlich, dass die Polizei anrief und ihn höflich darum bat, sich zu stellen.
»Ja?«, meldete er sich leise.
»Hey, Alter, wie geht’s?« Kens muntere Stimme war unverkennbar.
»Wie soll’s schon gehen?«
»Sehr informativ. Aber hab schon gehört, es geht einiges!«
»Was?«
»Naja, mein Schwesterherz hat mich eben angerufen.«
»Was hat sie erzählt?«
»Nichts hat sie erzählt. Dazu ist sie gar nicht gekommen, sie hat nur die ganze Zeit geweint. Ist mal wieder Weltuntergang angesagt.«
»Tut mir Leid.«
»Keine Panik! Du weißt doch, ein Gespräch mit dem Soziologen, und Berlin ist gerettet.«
Das war Ken. Selbst wenn das letzte Gericht bevorstand, er
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