Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
Hunde von ihrem Schreck erholt hatten, warfen sie sich augenblicklich wieder in die Ketten. Ein Beben durchlief den Fels, von der Ankerstelle bildete sich nach oben und unten ein breiter Riss. Domeniko grinste zufrieden. Beim nächsten Sprung der Tiere glitt der Eisendorn heraus.
„Jetzt!“, rief er und stieß die Wächterin vor sich her durch das Tor. Der Sog riss ihn fast entzwei und im grellen Licht konnte er nichts sehen. Dafür spürte er die Nähe der Totenwölfe, roch ihren Geifer und stinkenden Atem. Sie waren sehr dicht hinter ihnen.
Als der Sog sich in Druck verwandelte, wusste er, dass sie gleich den Dolmentunnel verlassen würden. Er reagierte blitzschnell, riss die Wächterin herum, sodass sie seitlich aus dem Tor torkelten, während Garm und Managarm sicher geradeaus springen würden.
In seinen Ohren toste ein Pfeifkonzert, unter dem er dumpf das Grollen der beiden hörte. „Das zweite Tor!“ Aber die Aufforderung wäre nicht mehr nötig gewesen. In ihrer Todespanik hatte die Wächterin längst ungeachtet ihrer Umgebung ein weiteres Tor erzeugt, in das sie beide fielen. Er verlor ihre Hand, fiel allein durch den Tunnel, aber das war nicht mehr wichtig, denn diesmal blieben ihre Verfolger zurück. Die befreiten Jäger würden sich andere Beute suchen müssen.
„Old MacDonald had a farm, hiahiaho. And on his farm he had a cow, hiahiaho.”
Mit diesem Kinderlied, das ihm seine Schwester vorgesungen hatte, wenn er als kleiner Junge Angst vorm Gewitter gehabt hatte, versuchte Dusty, sich zu beruhigen. Doch die Bilder jener Nacht, in der seltsame Gestalten in Halloween-Kostümen seinen Freund Biff entführt hatten, wollten nicht weichen. Er hatte seitdem keine zwei Stunden am Stück geschlafen, obwohl das jetzt über drei Wochen her war. Jedes Geräusch versetzte ihn in Panik. Er traute sich weder im Hellen noch im Dunklen hervor, kroch bloß von einem Versteck zum anderen, nutzte die Kanalisation und ernährte sich von ein paar Abfällen. Ihm war permanent schlecht. Ob er sich den Magen verdorben hatte oder das Grauen immer noch an seinen Eingeweiden zog, wusste er nicht. Vermutlich beides. Er musste wissen, was die mit Biff gemacht hatten, fürchtete sich aber gleichzeitig davor, was er in ihrer Wohnung finden würde. Biff hatte sein Leben für ihn riskiert, es vielleicht sogar geopfert. Dusty kam sich schäbig vor, dass er den Freund im Stich gelassen hatte. Aber das war es doch gewesen, was Biff ihm zugerufen hatte. Lauf, Junge!
Dusty wiegte sich vor und zurück, starrte ins Leere und klammerte sich an die dreckige Decke, die er in einem Keller gefunden hatte und die zu viele Löcher aufwies, um ihn zu wärmen. Er zitterte wie ein Junkie auf Drogenentzug, fuhr sich mit klammen Fingern durchs Haar und kämpfte ein weiteres Mal mit den Tränen. Wenn die Biff den Schädel eingeschlagen hatten? Ihm die Finger gebrochen? Oder ihn folterten? Aber was wollten die aus ihm rauskriegen? Konnte natürlich sein, dass die von einem der Konzerne kamen, bei denen sie für Verwirrung gesorgt hatten. Kleiner Racheakt sozusagen. Bei dem Gedanken fühlte er sich noch schlechter, denn daran war er schließlich beteiligt gewesen.
Entschlossen presste er die Lippen zusammen und sprang auf die Füße. Er würde jetzt kein weinerlicher Junge sein, sondern ein Mann. In diese Wohnung gehen und sehen, ob er eine Spur von Biff fand oder von denen, die bei ihnen aufgetaucht waren. Und dann wollte er losziehen, um Biff zu retten. Vielleicht sogar die Polizei anrufen, auch wenn er sich dann in den Knast setzen würde. Aber besser er im Knast als Biff tot. Er konnte ja die ganze Schuld auf sich nehmen, das war er dem Freund schuldig. Insgeheim hoffte er während des gesamten Weges, dass Biff bei Pizza und Bier vor dem Rechner saß, wenn er ankam und ihn lachend fragte, wo er sich so lange rumgetrieben hatte.
Vor dem Haus zögerte er wieder. Sein Magen war ein kalter Knoten. Wenn er jetzt reinging und Biff war nicht da, konnte er nicht mehr hoffen. Dann musste er die Tatsache hinnehmen.
Dusty rief sich zur Ordnung. Biff hätte auch nicht gezögert. Er klingelte bei der vergesslichen Dame im obersten Stock, die sich nicht wundern würde, wenn niemand kam, nachdem sie den Türöffner gedrückt hatte, weil sie sowieso alles sofort wieder vergaß. Der Türsummer ertönte, ohne dass sie gefragt hätte, wer da war. Das Treppenhaus lag im Dunkeln, es stank wie immer nach Urin und Erbrochenem. Warum wohnte jemand so Nettes wie
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