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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Verdacht, dass Papa nicht an Gott glaubte. Er hatte keine Einwände, als ich nicht mehr zur Kirche ging, nachdem Annie uns verlassen hatte, und bald darauf entdeckte ich, dass das Buch, an dem er schon so lange schrieb, den Titel
Die Rationale Begründung der Moral
trug. Soweit ich mir das aus seinen Bemerkungen zusammenreimen konnte, war das Ziel seines Buches, zu beweisen, dass man ein guter Mensch sein sollte, selbst wenn man nicht daran glaubte, dass man auf immer im Fegefeuer leiden müsse, wenn man schlecht war. Ich fragte mich oft, warum etwas so Offensichtliches eines Beweises in einem Buch bedurfte, aber ich wagte nicht, das zu sagen. Und als ich das nächste Mal versuchte, Mrs   Greaves über Spiritismus auszufragen, wechselte sie das Thema, so wie Annie es mit den Waisenhäusern getan hatte. Aber die Idee, dass uns die Geister der Toten umgaben, nur durch einen ganz dünnen Schleier getrennt von uns, wurde Teil meiner privaten Mythologie, zusammen mit den Göttern und Göttinnen der Unterwelt.
     
    ∗∗∗
     
    Beinahe bis zum Alter von sechzehn blieb ich in Miss Hales Schule. Ich wuchs in einer Art Schwebezustand auf, in dem ich lesen durfte, was immer ich wollte, gehen durfte, wohin immer ich wollte. Dabei hatte ich das Gefühl, dass es niemanden interessieren würde, wenn ich vom Erdboden verschwände. MeineFreiheit trennte mich von den anderen Mädchen, und weil ich keines von ihnen nach Hause einladen konnte, wurde ich auch von ihnen selten eingeladen. Mamas Gemütszustand besserte sich nicht; eher wurden ihre Verzweiflung und Lethargie über die Jahre noch stärker. Sie schleppte sich durchs Haus – das sie mittlerweile gar nicht mehr verließ, nicht einmal mehr, um Almas Grab zu besuchen   –, als würde sie langsam von einer unsichtbaren Last erdrückt. Und doch war ich nicht unglücklich, außer wenn ich mich dazu verpflichtet fühlte, abends bei ihr zu sitzen. Manchmal fragte ich mich dann schuldbewusst, ob ich dabei war, hart und gefühllos zu werden.
    Violet kündigte schließlich, wenige Monate bevor ich Miss Hales Schule verließ, und wurde auf Mrs   Greaves’ Empfehlung hin durch Lettie ersetzt, ein flinkes, kluges Mädchen, kaum älter als ich. Lettie war beim Tod ihrer Mutter zwölf gewesen und arbeitete seither als Dienstmädchen. Sie hatte einen Londoner Dialekt und besaß von väterlicher Seite irisches und spanisches Blut, sodass ihre Haut recht dunkel war, wie auch ihre großen, schwerlidrigen Augen mit den langen, gebogenen Wimpern. Ihre Finger waren rau und schwielig von den Jahren des Putzens, obgleich sie sie täglich mit Bimsstein abrieb. Ich mochte Lettie sofort, und oft half ich ihr beim Abstauben und Polieren, um mich mit ihr zu unterhalten. Samstagnachmittags traf sie sich mit ihren Freundinnen – die meisten von ihnen Dienstmädchen in Häusern rund um Holborn und Clerkenwell, wie sie selbst – in St George’s Gardens zu gemeinsamen Ausflügen. Wie gerne hätte ich mich ihnen angeschlossen.
    Mein Leben ging in dieser unwirklichen Weise weiter, bis mein Vater eines Morgens beim Frühstück unvermittelt verkündete, dass er uns verlassen werde.
    «Es ist höchste Zeit, dass du die Schule verlässt», sagte er zu mir, oder vielmehr zu seinem Teller, denn er mied meinen Blick, während er sprach. «Du bist jetzt alt genug, um deiner Mutter den Haushalt zu führen, und ich brauche Frieden undRuhe für die Fertigstellung meines Buches. Daher gehe ich zu Honoria – meiner Schwester in Cambridge. Ich habe dir ein Guthaben bei der Bank hinterlegt, ausreichend, um das Haus in seinem gegenwärtigen Zustand zu halten sowie für eine Mitgliedschaft bei Mudies Leihbibliothek. Allerdings werden viele meiner Bücher hierbleiben und dir zur Verfügung stehen; ich nehme nur meine Arbeitsbibliothek mit.»
    Aus dem, was er sagte, wurde mir klar, dass er niemals zurückkommen würde. Mehrfach hatte ich um diese Mitgliedschaft gebettelt, nur um jedes Mal zu hören zu bekommen, dass wir uns das nicht leisten konnten.
    «Aber Papa», sagte ich, «ich kümmere mich doch schon um deinen Haushalt» – seit über einem Jahr gab er mir jeden Donnerstagmorgen Haushaltsgeld   –, «und wie könnte dein Leben in Cambridge friedlicher sein als hier?»
    Die Gläser seines Kneifers blitzten auf, als er plötzlich den Kopf hob. «Ich bin sicher, du weißt, worum es geht», antwortete er, «und ich halte jede weitere Diskussion für sinnlos. Ich habe dir in vielen Dingen deinen Freiraum gewährt,

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