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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Alma geklungen hatte. Da kamen nur vage Vorstellungen von ihrem Singsang zu Melodien von Kirchenliedern;und ich vermochte nicht zu sagen, ob es eine wirkliche Erinnerung war oder etwas, das Mama mir erzählt hatte oder sogar etwas, das in Wirklichkeit ich selbst getan hatte, als ich klein war.
    Meine Mutter schien an diesem Abend weniger verzagt; ich fragte mich, ob Doktor. Warburton ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte. Auf meinem Stuhl, dem ihren gegenüber, schloss ich die Augen und überließ mich ganz der Wärme des Feuers. Dann begann ich mit dünner, piepsender Stimme zu singen, dachte mir Laute zu der Melodie von «All Things Bright and Beautiful» aus, bis ich meine Mutter mit bewegter Stimme sprechen hörte.
    «Alma?»
    «Ja, Mama», antwortete ich, mit demselben kindlichen Piepsen; die Augen hielt ich geschlossen.
    «Alma, bist du es wirklich?»
    «Ja, Mama.»
    «Wo bist du?»
    «Hier, Mama. Der Engel hat gesagt, ich darf zu dir kommen.»
    «Warum konntest du nicht früher kommen, mein Schatz? Dein Verlust hat mir das Herz gebrochen.»
    Diese Frage hatte ich nicht erwartet, und ich wusste keine Antwort.
    «Du sollst nicht traurig sein, Mama», sagte ich endlich, «ich bin doch froh im Himmel, und eines Tages wirst du mich dort treffen, und dann sind wir für immer zusammen.»
    «Bald, hoffe ich. Mein Leben hier ist eine Qual. Ich wünschte, es wäre vorüber.»
    «Du musst versuchen, froh zu sein, Mama», wiederholte ich ratlos. «Es macht mich traurig, dich weinen zu sehen.»
    «Siehst du mich die ganze Zeit, mein Schatz?»
    «Ja, Mama.»
    «
Warum
konntest du denn dann nicht früher kommen?»
    «Ich konnte den Weg nicht finden», lispelte ich, und um weitere Fragen zu vermeiden, begann ich wieder zu singen; langsam ließ ich meine Stimme immer leiser und meinen Atem langsamer werden. Wenig später gab ich vor aufzuschrecken, öffnete die Augen und sah Mama mich anstarren, wie ich es nie zuvor gesehen hatte.
    «Ich glaube, ich habe geschlafen, Mama. Ich habe von Alma geträumt.»
    «Nein, Kind, du warst in Trance. Alma hat durch dich gesprochen.»
    «Was ist Trance?», fragte ich unschuldig.
    «Es ist   … es ist das, was die Spiritisten tun – ich wollte es auch versuchen, aber
er
hat es verboten – er sagte, er würde mich verlassen, wenn ich je zu einer Séance ginge – und nun hat er mich ohnehin verlassen   –» Sie stockte und brach in haltloses Schluchzen aus. Ich ging zu ihr und umarmte sie und spürte zum ersten Mal in all diesen Jahren nach Almas Tod, dass sie meine Umarmung erwiderte, und meine Tränen mischten sich mit den ihren.
     
    ∗∗∗
     
    Ich ging diese Nacht froh zu Bett mit dem Gedanken, dass Mama endlich ins Leben zurückkehren würde. Aber am nächsten Abend wollte sie, dass ich meine Trance wiederholte. Ich sagte, ich wisse nicht, wie ich es getan hatte, aber ich würde es versuchen. Während ich vorgab einzudösen, suchte ich nach etwas Neuem, das ich sagen könnte. Aber ich konnte nur vage Bilder weißbekleideter Gestalten, in goldenes Licht getaucht, heraufbeschwören. Was
taten
denn die Menschen im Himmel, außer Singen und Harfespielen? Mrs   Greaves hatte von «Sommerland» gesprochen. Vielleicht war der Himmel wie ein vollkommener Sommertag auf dem Land, wo Alma auf einem himmlischen Pony über Felder voller Blumen ritt. Aber wennAlma immer noch zwei Jahre alt war – während sie darauf wartete, dass Mama bald zu ihr in den Himmel käme, damit sie von ihrem Großwerden nichts verpasste   –, dann wäre sie natürlich zu klein für ein Pony, selbst für ein himmlisches   … Am Ende gab ich den Versuch auf und öffnete meine Augen. Ich sah, wie sich der bekannte Ausdruck von Verzweiflung auf das Gesicht meiner Mutter legte.
    «Ist Alma nicht zu dir gekommen?», fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Aber Mama, du
weißt
doch jetzt, dass sie sicher im Himmel ist. Du brauchst nicht mehr traurig zu sein.»
    «Ich kann nicht sicher sein – vielleicht hast du nur im Schlaf gesprochen – wenn ich ihre Stimme nur nochmal hören könnte   …»
    Ich schaute sie an, und mein Mut sank. «Ich weiß nicht, wie es passiert ist, Mama, aber ich werde es morgen wieder versuchen», sagte ich schließlich. Bald darauf entschuldigte ich mich und ging in mein Zimmer. Ich spürte schon, wie die schwarze Wolke ihres Elends mich zu verschlingen begann, aber ich wusste, dass ich die Täuschung nicht ohne Hilfe aufrechterhalten konnte. Und so nahm ich am nächsten Nachmittag

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