Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
leise. Ich fand sie – ihrem beständigen Widerspruch zum Trotz – ausgesprochen hübsch. Sie war in einem Dorf in Somerset als Tochter eines Steinmetzen zusammen mit vier Brüdern und drei Schwestern aufgewachsen; fünf weitere Kinder waren sehr früh gestorben. Als sie mir davon zum ersten Mal erzählte, nahm ich an, dass ihre Mutter weit stärker vom Kummer geschlagen gewesen sein musste als meine. Aber nein, sagte Annie, es habe keine Zeit zum Trauern gegeben; ihre Mutter sei viel zu beschäftigt damit gewesen, sich um die verbliebenen Kinder zu kümmern. Und nein, sie hätten keine Kinderfrau gehabt. Dafür seien sie viel zu arm gewesen. Die Lage habe sich nun allerdings deutlich gebessert, seit drei ihrer Brüder Soldaten waren und ihre beiden älteren Schwestern wie sie selbst als Dienstmädchen arbeiteten; sie alle (außer einem Bruder, der in schlechte Gesellschaft geraten war) schickten ihrer Mutter Geld.
     
    Wenn das Wetter schön war, gingen Annie und ich am Nachmittag spazieren. Unser Haus lag in der Great James Street, und bei diesen Spaziergängen machten wir manchmal am Waisenhaus halt, um den Mädchen in ihren weißen Kitteln und braunen Serge-Umhängen beim Spielen zuzuschauen. Das Haus sah aus wie ein Palast mit seiner Allee von Gaslaternen, mit Fenstern, mehr als man zählen konnte, und der Skulptur eines Engels vor dem Eingang. Die Findelkinder, erzählte mir Annie (sie hatte eine Freundin, die hier aufgewachsen war und jetzt in Holborn im Dienst stand), waren als Säuglinge von ihren Müttern, die zu arm oder krank waren, um für sie zu sorgen, hierhergebracht worden. Und ja, es war sehr traurig für die Mütter, dass sie ihre Kleinen abgeben mussten, aber die Kinder hatten im Waisenhaus ein sehr viel besseres Leben. Alle Kinder wurden in gute Familien gegeben, bis sie fünf oder sechs Jahre alt waren, dann kamen sie zu ihrer Ausbildung zurück. Dreimal in der Woche gab es Fleisch zum Essen und sonntags Roastbeef, und wenn sie alt genug waren, ließ man die Jungen Soldaten, die Mädchen Zofen werden.
    Ich wollte alles über die Mütter wissen, die ihre Kinder im Waisenhaus abgegeben hatten. Annies Mutter war schließlich auch sehr arm gewesen und hatte ihre Kinder trotzdem alle bei sich behalten. Annie antwortete nur zögerlich, aber dann erzählte sie mir doch, dass die meisten Kinder hier waren, weil ihre Väter davongelaufen waren und die Mütter alleingelassen hatten.
    «Wenn Papa also wegginge», fragte ich, «käme ich dann ins Waisenhaus?»
    «Natürlich nicht, mein Kind», sagte Annie, «dein Vater wird nicht weggehen, und ich kümmere mich ja um dich.»
    Später an diesem Nachmittag, als wir bei dem Engel standen und den Jungen in ihrem Teil des Anwesens beim Spielen zusahen, erzählte sie mir die Geschichte von ihrer Freundin Sara, deren Mutter sie ins Waisenhaus gegeben hatte, weil ihrVater schon vor ihrer Geburt fortgegangen war. Sara hatte den Namen ihrer Mutter behalten, Baker, aber sie konnte sich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. An ihrer Pflegemutter, einer Mrs   Garrett in Wiltshire, hing sie sehr, und sie weinte bitterlich, als es an der Zeit war, für den Schulbesuch ins Waisenhaus zurückzukehren. Mr und Mrs   Garrett hätten Sara sehr gerne bei sich behalten, denn ihre eigenen Kinder waren allesamt gestorben, aber sie waren sehr arm, und das Heim hätte ihnen nichts mehr für Saras Pflege gezahlt, sobald diese alt genug war, um zur Schule zu gehen. Ja, doch, manchmal war es den Pflegemüttern auf dem Land erlaubt, die Kinder zu behalten, aber nur, wenn sie dem Waisenhaus garantieren konnten, dass sie genug Geld hatten, sich ordentlich um die Kinder zu kümmern. Ebenso konnten Mütter, deren Schicksal sich zum Guten gewendet hatte, ihre Kinder wieder zu sich holen.
     
    Ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, als es mir erstmals in den Sinn kam, dass auch ich ein Findelkind sein könnte. Es wäre ein guter Grund dafür gewesen, dass wir so nahe am Waisenhaus wohnten. Vor Almas Geburt hatten wir auf dem Land gelebt, wobei ich nur vage Erinnerungen an diese Zeit habe, und auch Annie konnte mir davon nicht erzählen, denn sie war erst nach unserem Umzug nach London zu uns gekommen. Natürlich konnte meine Geschichte auch eine andere sein. Annie hatte mir erklärt, dass es noch andere Waisenhäuser gab (und sie hatte mich ziemlich eigenartig angesehen, als ich sie fragte, ob wir sie uns ansehen könnten). Zudem hatte ich von Kindern gehört, die in Körben auf

Weitere Kostenlose Bücher