Ruf mich bei Deinem Namen
zunächst nichts, dann schmatzte er genüsslich. Sie war selig. Meine Mutter konnte nicht fassen, dass jemand, der an
einer weltberühmten Hochschule unterrichtete, sich nach einem Glas Aprikosensaft ein genüssliches Schmatzen leistete. Von Stund an wartete morgens immer ein Glas von dem Zeug auf ihn.
Er war sehr verwundert, als er erfuhr, dass wir Aprikosenbäume im eigenen Garten hatten. Wenn am Spätnachmittag im Haus nichts zu tun war, bat Mafalda ihn, mit einem Korb auf die
Leiter zu steigen und die Früchte herauszupflücken, die schon fast schamrot waren, wie sie sagte. Er scherzte auf Italienisch mit ihr, suchte eine Aprikose aus und fragte: Ist die schon
schamrot? Nein, sagte sie dann, die ist noch zu jung, Jugend hat keine Scham, die kommt mit dem Alter.
Unvergesslich das Bild, wie er in seiner roten Badehose die kleine Leiter hochkletterte und gemächlich die reifsten Früchte aussuchte. Auf dem Weg in die Küche –
Weidenkorb, Espadrilles, bauschiges Hemd, Sonnenmilch und so weiter – warf er mir eine besonders große Frucht zu. »Für dich«, sagte er, so wie auf dem Tennisplatz,
wenn er mir den Ball zuwarf: »Dein Aufschlag!« Natürlich konnte er nicht wissen, dass ich erst vor wenigen Minuten beim Anblick des gestreckten Körpers, der nach den
Früchten langte, hatte denken müssen, wie sehr die festen runden Wangen der Aprikose mit dem Grübchen in der Mitte in Farbe und Form seinem festen gerundeten Hinterteil glichen. Er
würde es nie erfahren, so wie die Menschen, bei denen wir unsere Zeitung kaufen und die nachts unsere Phantasie beschäftigen, nie erfahren werden, dass dieser besondere Gesichtsausdruck
oder jene Bräune auf nackter Schulter uns später, wenn wir allein sind, größte Lust verschaffen werden.
Für dich hatte etwas Spontanes, etwas von Hier, fang! , das mir deutlich machte, wie verbogen und verstohlen
meine Sehnsüchte waren. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass er mich mit der Aprikose in jenen Körperteil beißen ließ, der, weil keiner apricatio ausgesetzt, heller sein musste als der übrige Körper – und, wenn ich mich traue, auch in seinen apricock .
Übrigens wusste er mehr über Aprikosen als wir – wie sie gepfropft wurden, ihre Etymologie, ihre Herkunft, ihre Entwicklung im Mittelmeerraum. Am
Frühstückstisch erklärte mein Vater an jenem Morgen, der Name käme aus dem Arabischen, da das Wort – auf Italienisch albicocca, auf
Französisch abricot und auf Deutsch Aprikose – wie »Algebra«, »Alchemie« und »Alkohol«
von einem arabischen Substantiv mit dem arabischen Artikel al davor abgeleitet sei. Der Ursprung von albicocca sei al-birquq. Mein Vater, der sich nur ungern von dem Thema trennte und noch ein Glanzlicht aus neuerer Zeit brauchte, um seine Darbietung zu toppen, fügte hinzu, dass die
Aprikose erstaunlicherweise in Israel und in vielen arabischen Staaten heutzutage einen ganz anderen Namen trage, nämlich mishmish.
Meine Mutter staunte. Wir hätten alle – einschließlich meiner zwei Vettern, die in dieser Woche auf Besuch waren – am liebsten Beifall geklatscht.
In der Frage der Etymologie aber, sagte Oliver, erlaube er sich, anderer Ansicht zu sein. »Ah?«, war die betroffene Reaktion meines Vaters.
»Es handelt sich in Wahrheit nicht um ein arabisches Wort.«
»Wie das?«
Mein Vater verlegte sich auf die sokratische Ironie, die mit einem harmlosen »Was Sie nicht sagen!« beginnt, um den Gesprächspartner dann in gefährliche Untiefen zu
locken.
»Es ist eine lange Geschichte, ich muss um ein wenig Geduld bitten, Prof.« Oliver war plötzlich ernst geworden. »Viele lateinische Wörter kommen aus dem Griechischen.
Im Falle von apricot aber ist es umgekehrt, das Griechische hat das Wort aus dem Lateinischen übernommen. Das lateinische Wort war praecoquum, von prae-coquere, vorkochen, früh reifen, wie im englischen precocious oder unreif.
Die Byzantiner liehen sich praecox aus, und daraus wurde prekokkia oder berikokki , und von dort
müssen es die Araber als al-birquq übernommen haben.«
Meine Mutter, die seinem Charme nicht widerstehen konnte, streckte die Hand aus und fuhr ihm durchs Haar. » Che muvi star! «
»Es ist nicht zu leugnen, er hat recht«, sagte mein Vater leise, als spielte er den besiegten Galileo, der sein »Und sie bewegt sich doch« nur mehr hatte murmeln
dürfen.
»Seminar 101 – Philologie«, sagte Oliver.
Und ich konnte nur noch apricock precock, precock apricock
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