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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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wurde mir klar, dass er sich von vier verschiedenen Seiten zeigen konnte – je nachdem, welche Badehose er anhatte. Zu wissen, was ich zu erwarten hatte, verschaffte
mir die Illusion eines leichten Vorteils. Rot: Draufgängerisch, unflexibel, sehr erwachsen, fast schroff und übellaunig – bleib weg. Gelb: Munter, beschwingt, witzig, nicht
ohne Stacheln – gib nicht zu schnell nach, kann jederzeit in Rot umschlagen. Grün – selten getragen: nachgiebig, lernbegierig, redefreudig, heiter – warum war
er nicht immer so? Blau: Der Nachmittag, an dem er vom Balkon aus in mein Zimmer kam, der Tag, an dem er meine Schulter massierte oder mein Glas aufhob und es neben mich stellte.
    Heute war ein roter Tag: ungestüm, entschlossen, kurz angebunden.
    Im Hinausgehen griff er sich einen Apfel aus einer großen Obstschale, rief meiner Mutter, die mit zwei Freundinnen – alle drei im Badeanzug – im Schatten saß,
ein munteres »Später, Mrs. P.« zu und übersprang das Törchen zum Klippensteig mit einem Satz. Keiner unserer Sommergäste war so zwanglos gewesen, aber alle liebten
ihn und sein »Später!«
    »Okay, Oliver, später, okay«, sagte meine Mutter, redlich bemüht, sich seinem Jargon anzupassen. Mittlerweile hatte sie sogar ihren neuen Titel als Mrs. P. akzeptiert. Es
hatte immer etwas Abruptes, dieses Wort. Es war nicht »Bis später« oder »Pass auf dich auf« oder »Ciao!« »Später« war ein frostiger
Gruß, treffsicher wie ein Slamdunk beim Basketball, der sich rücksichtslos über all unsere verzuckerten europäischen Artigkeiten hinwegsetzte. »Später« war
kein ordentlicher Abschluss, kein allmähliches Verhallen, sondern eine Tür, die lautstark zuschlug.
    Aber »Später« war auch eine Möglichkeit, ein Lebwohl zu vermeiden, Abschiede leichtzunehmen. »Später« bedeutete eben nicht Lebwohl, sondern verhieß,
dass man ruckzuck wieder da sein würde. Es war das Gegenstück zu seinem »Sekunde bitte«, als meine Mutter ihn einmal bat, ihr das Brot zu reichen und er gerade dabei war, die
Gräten auf seinem Teller zu sortieren. »Sekunde bitte.« Meine Mutter, der seine Amerikanismen , wie sie es nannte, gegen den Strich gingen, nannte
ihn nur noch Il cauboi – den Cowboy. Was zunächst als Verweis gedacht war, wurde sehr bald zum Kosewort, zusammen mit ihrem zweiten Spitznamen
für ihn, den er schon seit der ersten Woche hatte, als er sich, das glänzende Haar glattgestriegelt, nach dem Duschen zu Tisch setzte. La star , hatte sie
gesagt, eine Abkürzung für la movie star. Mein Vater, stets der Nachsichtigste, aber auch der Scharfsichtigste unter uns, hatte den cauboi durchschaut. » È un timido , er ist schüchtern, daher kommt es«, sagte er, als man ihn um eine Erklärung
für Olivers brüskes »Später« bat.
    Oliver und timido? Das war mir neu. Konnte es sein, dass diese rauen Amerikanismen nur über das Ziel hinausschießende Versuche waren, die schlichte
Tatsache zu bemänteln, dass er nicht wusste – oder nicht zu wissen fürchtete –, wie man sich elegant verabschiedet? Dabei fiel mir ein, wie er sich tagelang
geweigert hatte, morgens weiche Eier zu essen. Am vierten oder fünften Tag verkündete Mafalda streng, er könne nicht abreisen, ohne zu wissen, wie bei uns die Eier schmeckten.
Schließlich gab er nach, gestand aber mit einem Hauch echter Verlegenheit, die zu verbergen er sich keine Mühe gab, dass er nicht wusste, wie man ein weiches Ei aufmacht.
» Lasci fare a me, Signor Ulliva, lassen Sie mich machen«, sagte Mafalda. Von diesem Morgen an und noch geraume Zeit danach brachte sie Ulliva immer zwei
Eier und ließ alle anderen am Tisch warten, bis sie beide gekonnt geköpft hatte.
    Ob er vielleicht ein drittes wolle, fragte sie. Es gab Leute, die gern mehr als zwei Eier aßen. Nein, zwei seien genug, sagte er und an meine Eltern gewandt: »Ich kenne mich, wenn
ich drei esse, esse ich auch ein viertes und immer so weiter.« Ich hatte noch nie gehört, dass jemand in seinem Alter gesagt hatte Ich kenne mich. Es
machte mir Angst.
    Aber er hatte Mafalda schon viel früher für sich gewonnen, an seinem dritten Tag, als er ihre Frage bejaht hatte, ob er morgens Saft haben wollte. Er erwartete wohl Orangenoder
Grapefruitsaft, aber was sie vor ihn hinstellte, war ein großes Glas randvoll mit dickflüssigem Aprikosensaft, den er noch nie getrunken hatte. Sie stand vor ihm, das Tablett flach an
die Schürze gedrückt und sah ihm beim Trinken zu. Er sagte

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