Ruf mich bei Deinem Namen
Dazu kamen die Moreschis, die drei Häuser weiter wohnten, die Malaspinas aus N. und Gelegenheitsbekanntschaften aus den Bars auf der piazzetta oder im Le
Danzing, gar nicht zu reden von seinen abendlichen Poker- und Bridgerunden, die – für uns völlig undurchschaubar – offenbar bestens liefen.
Sein Leben war – wie seine Unterlagen – nur scheinbar chaotisch, in Wirklichkeit aber streng gegliedert. Zuweilen ließ er das Abendessen ganz ausfallen und sagte zu
Mafalda nur: » Esco , ich gehe aus.«
Sein Esco war, wie ich rasch begriff, eine andere Version von »Später.« Ein summarisches und bedingungsloses Abschiedswort, nicht im Hinausgehen
gesprochen, sondern schon vor der Tür, ein Wort, bei dem man den Zurückbleibenden den Rücken kehrt. Ich fühlte immer mit den Empfängern dieser Botschaft, die ihn
womöglich gern noch um etwas gebeten, ihm gern noch etwas ans Herz gelegt hätten.
Nicht zu wissen, ob er abends zum Essen da sein würde, war Folter, aber gerade noch auszuhalten. Nicht den Mut haben zu fragen, ob er kommen würde, war das eigentliche Martyrium. Das
Herzflattern, wenn ich seine Stimme hörte oder ihn an seinem Platz sitzen sah, wenn ich schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, war herrlich und tödlich zugleich wie eine giftige Blume.
Ihn zu sehen und zu glauben, er würde abends mit uns essen, nur um kurz danach sein entschiedenes Esco zu hören lehrte mich, dass es manche Wünsche
gibt, die man beschneiden muss wie die Flügel eines zu den schönsten Hoffnungen berechtigenden Vogels.
Ich wollte ihn aus dem Haus haben, um mich endlich von ihm befreien zu können.
Auch sein Tod wäre mir recht gewesen, denn dann hätte ich nicht mehr ständig an ihn zu denken und mich zu fragen brauchen, wann ich ihn das nächste Mal sehen würde. Ich
war sogar bereit, ihn selbst umzubringen, damit er merkte, wie sehr sein schieres Da-Sein mich belastete, seine Lässigkeit in allen Dingen, sein ständiges Okay , sein Sprung über das Gatter, das zum Klippensteig führte, während alle anderen es entriegelten, gar nicht zu reden von seinen Badehosen, seinem
Lieblingsplatz im Paradies , seinem forschen »Später«, seiner schmatzenden Begeisterung für Aprikosensaft. Wenn ich ihn schon nicht umbringen
konnte, dann würde ich ihn fürs Leben zum Krüppel machen, so dass er im Rollstuhl bei uns leben und nie wieder in die Staaten zurückkehren würde. Säße er im
Rollstuhl, wüsste ich immer, wo er war, dann wäre er leicht zu finden. Ich würde mich dem Versehrten überlegen fühlen und sein Herr und Meister sein.
Eine andere Möglichkeit wäre, mir das Leben zu nehmen oder mir eine schwere Verletzung beizubringen und ihn wissen zu lassen, warum ich es getan hatte. Wäre mein Gesicht schlimm
zugerichtet, würde er sich bei meinem Anblick fragen, warum um Himmels willen sich jemand so etwas antun konnte, bis er Jahre später – ja,
»Später« – die Stücke des Puzzles zusammenfügen und mit dem Kopf gegen die Wand rennen würde.
Manchmal war es Chiara, die ich loswerden wollte. Ich wusste, worauf sie aus war. Sie war so alt wie ich, und ihr Körper war mehr als bereit für ihn. Mehr noch als meiner? Sie war ganz
offensichtlich hinter ihm her, während ich mir eigentlich nur eine Nacht mit ihm wünschte, ja eine Stunde, um zu entscheiden, ob ich ihn danach für eine weitere Nacht würde
haben wollen. Dabei machte ich mir nicht klar, dass der Wunsch, Begehren zu testen, lediglich eine List ist, um zu bekommen, was wir wollen, ohne zuzugeben, dass wir es wollen. Mit Bangen dachte
ich daran, wie erfahren er war. Wenn er wenige Wochen nach seiner Ankunft so leicht Freunde finden konnte, ließ sich denken, was für ein Leben er in der Heimat führte –
losgelassen auf einem Campus wie Columbia, wo er unterrichtete!
Die Sache mit Chiara ging so leicht, dass man nur staunen konnte. Besonders gern fuhr er mit ihr in unserem Ruderkatamaran zu einer gita aufs offene Meer hinaus,
das heißt, er ruderte und sie räkelte sich auf dem Rumpf in der Sonne und zog den BH aus, sobald sie weit genug vom Strand entfernt waren.
Ich beobachtete sie. Ich hatte unheimliche Angst, ihn an sie zu verlieren. Und sie an ihn. Trotzdem – wenn ich sie mir zusammen vorstellte, machte mich das nicht unglücklich. Es
machte mich steif, auch wenn ich nicht hätte sagen können, ob das, was mich erregte, Chiaras nackter, sonnenbeglänzter Leib war, der seine neben ihr oder beides miteinander. Ich
stand
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