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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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niemand ihn so körperlich begehrte wie ich, dass niemand bereit gewesen wäre, für ihn so weit zu gehen wie ich.
Niemand sonst hatte sich so andächtig in jeden Knochen seines Körpers, seine Fesseln, Knie, Handgelenke, Finger und Zehen vertieft, niemand so lustvoll jede seiner Muskelbewegungen
studiert, niemand sonst nahm ihn nachts mit ins Bett, lächelte ihm zu, wenn er sich morgens in seinem Himmel am Pool ausstreckte, und wartete, bis auch um seine
Lippen ein Lächeln lag, und dachte: Wusstest du, dass ich letzte Nacht in deinem Mund gekommen bin?
    Vielleicht hatten auch die anderen irgendein besonderes Gefühl für ihn, das jedes auf seine oder ihre Weise verbarg oder zur Schau stellte. Aber ich sah ihn als erster, wenn er vom
Strand her den Garten betrat oder wenn der verschwommene Umriss seines Fahrrads im Dunst des Spätnachmittags aus der Pinienallee auftauchte. Ich war der erste, der seine Schritte erkannte, als
er einmal verspätet im Kino auftauchte und stehenblieb, um wortlos nach uns Ausschau zu halten, bis ich mich umdrehte, weil ich wusste, wie sehr es ihn freuen würde, dass ich ihn entdeckt
hatte. Ich erkannte ihn am Schritt, wenn er die Außentreppe zu unserem Balkon hochstieg oder im Haus an meiner Zimmertür vorbeiging. Ich wusste, wann er vor meiner Balkontür
verharrte, als kämpfe er mit sich, ob er klopfen sollte, es sich dann anders überlegte und weiterging. Ich wusste, dass nur er so auf dem Fahrrad sitzen konnte, dass es ungebärdig
über den dick gekiesten Weg schlitterte und noch weiterfuhr, wenn es offenkundig keine Bodenhaftung mehr hatte, bis er es schließlich mit einem kühnen, entschlossenen Ruck zum
Halten brachte und mit einem demonstrativen voilà absprang.
    Ich bemühte mich, ihn immer im Blick zu behalten, ließ die Verbindung nie abreißen, außer wenn er nicht bei mir war. Und wenn er nicht bei mir war, kümmerte es mich
wenig, was er machte, sofern er zu anderen nicht anders war als zu mir. Mach, dass er anderswo kein anderer Mensch ist, einer, den ich noch nie gesehen habe. Mach, dass er kein anderes Leben
führt als das mit uns, mit mir.
    Mach, dass ich ihn nicht verliere.
    Ich wusste, dass ich keine Macht über ihn, dass ich ihm nichts zu bieten hatte, dass es nichts gab, womit ich ihn hätte ködern können.
    Ich war ein Nichts.
    Nur ein Kind.
    Er verschenkte seine Zuneigung, wann und wie es ihm passte. Wenn er mir half, ein Fragment von Heraklit zu verstehen, weil ich unbedingt »seinen« Autor lesen wollte, waren die
Begriffe, die mir dazu einfielen, nicht »Güte« oder »Großherzigkeit«, sondern »Geduld« und »Nachsicht« und damit etwas Höherwertiges.
Fragte er kurz darauf, ob mir das Buch gefiel, das ich gerade las, tat er das nicht unbedingt, weil er es wissen wollte, sondern weil ihm das die Chance für ein wenig beiläufiges
Geplauder bot.
    »Beiläufig« war eins seiner okay-Worte.
    Wie kommt es, dass du nicht mit den anderen am Strand bist?
    Komm, halt du dich an deine Klampfe.
    »Später.«
    Für dich.
    Will nur ein bisschen reden.
    Beiläufiges Geplauder.
    Nichtigkeiten.
    Oliver wurde viel in andere Familien eingeladen. Schon bei unseren früheren Sommergästen war das üblich gewesen. Meinem Vater lag sehr daran, dass sie in der
Stadt ausgiebig über ihre Bücher und ihre Fachkenntnisse sprachen, Wissenschaftler sollten sich im Gespräch mit Laien üben, fand er, und deshalb lud er immer auch Anwälte,
Ärzte und Geschäftsleute zum Essen ein. In Italien hat jeder Dante, Homer und Vergil gelesen, sagte er immer. Einerlei, mit wem ihr sprecht, Hauptsache, ihr kommt ihnen erst mit Dante und
Homer. Vergil ist ein Muss, Leopardi folgt dichtauf, und danach könnt ihr hemmungslos mit eurem Wissen glänzen – ob Celan, Sellerie oder Salami ist ziemlich einerlei. Das hatte
auch den Vorteil, dass unsere Sommergäste ihr Italienisch vervollkommnen konnten, wozu ja unter anderem dieser Aufenthalt auch gedacht war. Sie in den Familien von B. die Runde machen zu
lassen, war für uns auch insofern positiv, als wir sie nicht Abend für Abend bei uns am Tisch hatten.
    Die Zahl der Einladungen aber, die Oliver bekam, war geradezu schwindelerregend. Chiara und ihre Schwester wollten ihn mindestens zweimal in der Woche zu Besuch haben. Ein Karikaturist aus
Brüssel, der eine Villa für den ganzen Sommer gemietet hatte, bat ihn zu seinen exklusiven Sonntagssoupers, zu denen Schriftsteller und Wissenschaftler aus der Umgebung eingeladen wurden.

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