Ruf mich bei Deinem Namen
sagte er, als habe er meinen Bluff durchschaut und wolle das Spiel nicht weitertreiben, »aber noch mehr respektiere ich deine
Jugend.«
»In ein paar Jahren ist es mit der Jugend vorbei«, erklärte ich wie einer, der in der Welt herumgekommen ist und sich kennt.
»Ja, aber das erlebe ich dann nicht mehr.«
Wollte er mich veralbern?
»Nimm schon.« Er streckte mir den Plastikbecher mit Scotch hin. Ich zögerte kurz, dann griff ich zu. Es war die Marke, die auch mein Vater zu Hause trank.
Lucia, die den Wortwechsel mitbekommen hatte, sagte: » Tanto , ein Scotch mehr oder weniger macht dich nicht verkommener, als du schon bist.«
»Ich wünschte, ich wär’s«, sagte ich, Falstaff ignorierend.
»Warum? Was fehlt denn in deinem Leben?«
»Was in meinem Leben fehlt?« Alles , hätte ich fast gesagt, aber dann besann ich mich. »Freundschaften, wie es sie hier zu geben scheint.
Ich wünschte, ich hätte Freunde, wie du sie hast. Freunde wie dich.«
»Du wirst noch reichlich Zeit für solche Freundschaften haben. Würden dich denn Freunde davor bewahren, dissoluto zu sein?« Das Wort kam
immer wieder, wie der Vorwurf eines bösen, tiefsitzenden Charakterfehlers.
»Ich wünschte, ich hätte einen Freund, den ich nicht verlieren müsste.«
Sie sah mich nachdenklich lächelnd an.
»Du sprichst Bände, mein Freund, aber heute Abend stehen nur kurze Gedichte auf dem Programm.«
Ihr Blick ließ mich nicht los. »Du Armer.« Mit einer schwermütig liebevollen Bewegung legte sie die Hand an mein Gesicht, als sei ich unversehens zu ihrem Kind
geworden.
Auch das fand ich wunderbar.
»Du bist zu jung, um zu verstehen, was ich sage – aber irgendwann, bald, wie ich hoffe, werden wir wieder miteinander sprechen, und dann werden wir sehen, ob ich nobel genug
bin, das Wort zurückzunehmen, das ich heute benutzt habe. Scherzavo , es war nur ein Scherz.« Sie küsste mich rasch auf die Wange.
Was für eine Welt! Sie war mehr als doppelt so alt wie ich, aber ich hätte auf der Stelle mit ihr schlafen, mit ihr weinen können.
»Gibt es einen Toast oder was?«, rief jemand in einer anderen Ecke des Raums.
Lautes Stimmengewirr.
Und dann kam es. Eine Hand auf meiner Schulter. Die von Amanda. Eine zweite auf meiner Taille. Wie gut ich sie kannte, diese andere Hand. Möge sie mich heute Abend nie mehr loslassen. Ich
bete jeden Finger dieser Hand an, jeden Nagel, an dem du herumbeißt, geliebter Oliver – lass mich nicht los, ich brauche diese Hand an dieser Stelle. Es lief mir kalt den
Rücken herunter.
»Und ich bin Ada«, sagte jemand fast entschuldigend, als wüsste sie, dass sie viel zu lange gebraucht hatte, bis zu uns vorzudringen und wollte das jetzt wieder gutmachen, indem
sie alle in unserer Ecke wissen ließ, dass sie die Ada war, von der bestimmt alle gesprochen hatten. Etwas Raues, Verwegenes in ihrer Stimme oder die Art, wie sie sich bei der Nennung ihres
Namens Zeit ließ oder alles – Lesungen, Vorstellungen, ja auch Freundschaft – leicht zu nehmen schien, sagte mir plötzlich, dass ich an diesem Abend
tatsächlich eine verzauberte Welt betreten hatte.
Ich war noch nie in dieser Welt unterwegs gewesen, aber ich liebte sie. Und würde sie noch mehr lieben, wenn ich gelernt hatte, ihre Sprache zu sprechen, eine Sprache, bei der unsere
tiefsten Sehnsüchte sich in Geplänkel verbergen, nicht weil wir etwas, was schockieren könnte, lieber mit einem Lächeln sagen, sondern weil die Nuancen der Lust sich in dieser
neuen Welt nur spielerisch vermitteln lassen.
Jedermann war verfügbar, lebte verfügbar – wie die Stadt selbst – und ging davon aus, dass es allen anderen genauso ging. So wie sie wollte ich auch sein.
Der Buchhändler schwang eine Glocke neben der Kasse, und Ruhe trat ein.
Der Dichter sprach. »Ich wollte dieses Gedicht heute Abend eigentlich nicht lesen, aber weil jemand …« – hier änderte sich
seine Stimme – »... jemand es erwähnt hat, konnte ich nicht widerstehen. Es heißt Das San-Clemente-Syndrom und es ist, wenn ein
Verseschmied das von seinem eigenen Werk sagen darf, mein Lieblingsstück.« Ich erfuhr später, dass er sich selbst nie als Dichter oder seine Werke als Dichtung bezeichnete.
»Weil es das Schwierigste war, weil es mir entsetzliches Heimweh bescherte, weil es mich in Thailand gerettet, weil es mir eine Erklärung für mein ganzes Leben geliefert hat. Ich
zählte meine Tage, meine Nächte mit San Clemente im Kopf. Die Vorstellung, nach
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