Ruf mich bei Deinem Namen
»Mach dich nicht über seine Füße lustig, Lucia, an seinen Füßen ist nichts auszusetzen.«
»Es sind Armeleutefüße. Der Mann ist sein Leben lang barfuß gegangen und kauft seine Schuhe immer noch eine Nummer größer für den Fall, dass er vor
Weihnachten noch wächst, wenn die Familie ihre Festtagseinkäufe macht.« Sie gefiel sich offenbar in der Rolle der verbitterten oder verlassenen Xanthippe.
Aber ich ließ ihre Hand nicht los und sie nicht die meine. Großstadtkameraderie. Wie schön, die Hand einer Frau zu halten, besonders wenn du nichts von ihr weißt. Se l’amore , dachte ich. Und all diese gebräunten Arme und Ellbogen der vielen Frauen auf der Galerie. Se
l’amore.
Der Buchhändler unterbrach den Streit, der ebensogut gespielt sein konnte. »Se l’amore«, rief er. Alles lachte. Unklar blieb, ob aus Erleichterung darüber, dass dem
Ehekrach die Spitze genommen war, oder weil Se l’amore implizierte Wenn das Liebe ist, dann …
Aber die Gäste hatten auch begriffen, dass damit der Startschuss für den Beginn der Lesung gefallen war, und alle suchten sich eine bequeme Ecke oder eine Wand zum Anlehnen. Unser
Platz war der beste, wir saßen auf der Wendeltreppe, jeder auf einer Stufe, und hielten uns noch immer an der Hand. Der Verleger wollte gerade den Dichter vorstellen, als die Tür sich
quietschend öffnete. Oliver schob sich durch die Menge, zwei umwerfend schöne junge Frauen im Schlepptau – bestimmt Topmodels oder Filmschauspielerinnen. Es sah aus, als
hätte er sie unterwegs aufgegabelt und eine für sich und eine für mich mitgebracht. Se l’amore.
»Oliver! Endlich!« Der Verleger hob sein Glas. »Herzlich willkommen.«
Alle drehten sich um.
»Einer der jüngsten, talentiertesten amerikanischen Philosophen«, verkündete er, »in Begleitung meiner reizenden Töchter, ohne die Se
l’amore nie das Licht der Welt erblickt hätte.«
Der Dichter nickte zustimmend. »Tolle Mädels, nicht?«, flüsterte seine Frau mir zu. Der Verleger stieg von der kleinen Trittleiter, umarmte Oliver und nahm ihm den
großen Röntgenbildumschlag ab, in dem Oliver seine losen Blätter transportiert hatte. »Manuskript?« »Manuskript«, bestätigte Oliver und bekam im
Austausch das Buch der heutigen Lesung in die Hand gedrückt. »Du hast mir schon eins gegeben.« »Ach richtig.« Trotzdem bewunderte Oliver höflich das Cover, dann
sah er mich neben Lucia sitzen. Er kam zu uns hinüber, legte mir einen Arm um die Schulter und beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Sie sah mich an, sah Oliver an und begriff.
» Sei un dissoluto, Oliver, du verkommenes Subjekt!«
»Se l’amore«, gab er zurück und hielt das Buch hoch, als wollte er sagen, dass alles, was er tat, bereits von ihrem Mann beschrieben und
deshalb durchaus zulässig war.
» Se l’amore? Komm, hör auf!«
Hatte sie ihn nur wegen der Mädels, die er mitgebracht hatte, verkommen genannt – oder meinetwegen? Oder hatte sie beides gemeint?
Oliver machte mich mit den beiden Frauen bekannt. Er kannte sie offenbar gut und beide mochten ihn. » Sei l’amico di Oliver, vero? Du bist Olivers
Freund, nicht?«, sagte die eine. »Er hat von dir erzählt.«
»Was denn?«
»Nur Gutes.«
Sie lehnte sich an die Wand, an der ich jetzt neben der Frau des Dichters stand. »Er lässt meine Hand überhaupt nicht mehr los«, sagte Lucia, als spräche sie zu einem
unsichtbaren Dritten. Vielleicht wollte sie, dass die beiden Frauen es merkten.
Jetzt würde ich wohl oder übel loslassen müssen. Ich schloss meine beiden Hände um die ihren, hob sie an die Lippen, küsste sie nah am Rand der Handfläche und gab
sie dann frei. Ich kam mir vor, als hätte ich sie einen ganzen Nachmittag gehabt und überließe sie jetzt ihrem Mann, so wie man einen Vogel in die Freiheit entlässt, dessen
gebrochener Flügel lange zum Heilen gebraucht hat.
»Se l’amore«, sagte sie kopfschüttelnd und mit gespieltem Tadel. »Ebenso verkommen wie der andere, aber sehr süß. Ich
überlasse ihn euch.«
Eine der Töchter kicherte gezwungen. »Mal sehen, was sich mit ihm machen lässt.«
Ich war selig.
Sie wusste, wie ich hieß. Sie selbst hieß Amanda, ihre Schwester Adele. »Es gibt noch eine dritte«, sagte Amanda. Die muss auch hier irgendwo sein.«
Der Dichter räusperte sich und begann mit den üblichen Dankesworten an alle, vor allem aber an Lucia, das Licht seiner Augen. Möchte wissen, warum ich es mit ihm aushalte,
flüsterte Lucia und
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