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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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Rom zurückzukehren, ohne dieses lange Stück fertigzustellen, ängstigte mich mehr als die
Vorstellung, noch einmal eine Woche auf dem Flughafen von Bangkok gestrandet zu sein. Dann aber habe ich in Rom, in unserem Heim, keine zweihundert Meter von der Basilica San Clemente entfernt,
einem Werk den letzten Schliff gegeben, das ich, so merkwürdig das klingen mag, vor Äonen in Bangkok begonnen hatte, weil ich das Gefühl hatte, durch ganze Galaxien von Rom getrennt
zu sein.«
    Während seiner Lesung überlegte ich, dass ich es, anders als er, immer erfolgreich vermieden hatte, die Tage zu zählen. In drei Tagen würden wir abreisen, und dann würde
sich alles, was mich mit Oliver verband, in Luft auflösen. Wir hatten über ein Treffen in den Staaten geredet, hatten versprochen, uns zu schreiben, zu telefonieren – aber das
alles hatte etwas seltsam Surreales, das wir beide bewusst im Dunkeln ließen – nicht, weil wir den Dingen ihren Lauf lassen wollten, um später den Umständen und nicht uns
die Schuld geben zu können, sondern weil wir uns durch den Verzicht auf wie auch immer geartete Pläne weigerten zu akzeptieren, dass unsere Beziehung endlich war. Auch Rom gehörte zu
dieser Vermeidungsstrategie. Rom war eine letzte Fete, ehe Schule und Reisen uns trennten, ein Aufschub, eine Verlängerung der Party weit über die Sperrstunde hinaus. Vielleicht war es,
ohne dass wir das klar gesehen hätten, mehr als ein Kurzurlaub: Wir waren miteinander durchgebrannt, versehen mit Rückfahrkarten an getrennte Ziele.
    Vielleicht war es sein Geschenk an mich.
    Vielleicht war es das Geschenk meines Vaters an uns beide.
    Würde ich weiterleben können, ohne seine Hand auf meinem Bauch oder auf meiner Hüfte zu spüren? Ohne eine Wunde an seiner Hüfte zu lecken und zu küssen, die noch
Wochen zum Heilen brauchen würde, aber jetzt ohne mich? Wen außer ihn würde ich jemals bei meinem Namen rufen können?
    Gewiss, es würde andere geben und danach wieder andere, aber sie in einem Augenblick der Leidenschaft bei meinem Namen zu rufen würde mir vorkommen wie ein geliehener Kitzel, wie
Heuchelei.
    Ich dachte an den leeren Schrank und den gepackten Koffer neben seinem Bett. Bald würde ich in Olivers Zimmer schlafen. Ich würde mit seinem Hemd schlafen, es neben mir liegen
haben.
    Nach der Lesung gab es wieder Beifall, Häppchen, Drinks. Bald würde die Buchhandlung schließen, Ich dachte an Marzia und die Buchhandlung in B. Wie weit weg, wie anders. Wie ganz
und gar unwirklich …
    Jemand meinte, wir sollten alle miteinander essen gehen. Wir waren etwa dreißig. Einer schlug ein Restaurant am Lago Albano vor. Ich sah ein Restaurant mit Blick auf eine sternenhelle
Nacht vor mir – wie ein Bild aus einem illuminierten mittelalterlichen Manuskript. Nein, zu weit, hieß es. Ja, aber die Lichter auf dem nächtlichen See … Die Lichter
auf dem nächtlichen See werden auf ein anderes Mal warten müssen. Wie wär’s mit einem Lokal auf der Via Cassia? Ja, aber was ist mit dem Transportproblem? Wir haben nicht genug
Autos. Natürlich haben wir genug Autos. Wen stört’s, wenn wir uns für kurze Zeit gegenseitig auf den Schoß nehmen? Na eben! Besonders, wenn ich zwischen den beiden
schönen Schwestern sitzen darf. Ja, aber wenn sie Falstaff auf den Schoß nehmen?
    Wir hatten nur fünf Autos, die in verschiedenen Gässchen in der Nähe der Buchhandlung geparkt waren. Weil wir nicht als Gruppe losfahren konnten, verabredeten wir, uns am Ponte
Milvio zu treffen. Von dort aus ging es die Via Cassia hoch zu der Trattoria, von der nur einer wusste, wo genau sie lag.
    Nach einer Dreiviertelstunde waren wir da – immerhin früher, als wenn wir nach Albano gefahren wären. Es war eine Trattoria unter freiem Himmel mit karierten
Tischtüchern und sparsam verteilen Mückenkerzen. Inzwischen war es elf, und die Luft war noch sehr feucht. Man sah es auf unseren Gesichtern und an unseren Sachen, alles war schlapp und
durchweicht, selbst die Tischtücher. Aber das Restaurant lag am Hang, und hin und wieder wehte ein müder Windhauch durch die Bäume, der anzeigte, dass es morgen wieder regnen, aber
die Schwüle unverändert bleiben würde.
    Die Bedienung, eine Frau um die sechzig, zählte rasch unsere Gruppe und wies ihre Hilfe an, die Tische zu einem Hufeisen zusammenzustellen, was sogleich geschah. Dann sagte sie, was es zu
essen und zu trinken gab. Nur gut, dass sie uns keine Wahl lässt, sagte die Frau des

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