Ruf mich bei Deinem Namen
warf dem Dichter einen liebevollen Blick zu.
»Wegen seiner Schuhe«, sagte er.
»Genau.«
»Leg los, Alfredo«, sagte der bekropfte Tukan.
» Se l’amore ist eine Sammlung von Gedichten, die entstanden, nachdem ich in Thailand ein Semester Dante unterrichtet hatte. Wie viele von Ihnen
wissen, liebte ich Thailand, ehe ich das Land betrat, und begann es gleich nach meiner Ankunft zu hassen. Oder anders gesagt: Ich hasste es, solange ich dort lebte, und liebte es, kaum dass ich
abgereist war.«
Gelächter.
Getränke wurden herumgereicht.
»In Bangkok dachte ich an Rom – was sonst –, an diesen kleinen Laden hier und an die Straßen der Umgebung kurz vor Sonnenuntergang und an die Kirchenglocken am
Ostersonntag, und an den Regentagen, die in Bangkok kein Ende nehmen wollen, hätte ich am liebsten gerufen Lucia, Lucia, warum hast du nicht nein gesagt, da du doch wusstest, wie sehr ich dich
an diesen Tagen vermissen würde, an denen ich mich hohler fühlte als Ovid auf jenem gottverlassenen Außenposten, wo er gestorben ist? Ich ging als ein Narr und kehrte nicht
klüger zurück. Die Menschen in Thailand sind wunderschön – deshalb kann die Einsamkeit grausam sein, wenn man etwas getrunken hat und drauf und dran ist, den erstbesten
Fremden anzufassen, der einem über den Weg läuft – wunderschön sind sie dort alle, aber man zahlt für ein Lächeln mit dem Schnapsglas.« Er hielt einen
Augenblick inne, als müsse er sich sammeln. »Ich habe diese Gedichte Tristia genannt.«
Tristia dauerte gut zwanzig Minuten, dann kam der Beifall, forte, wie eins der Mädels sagte, molto forte. Der bekropfte Tukan wandte sich an eine andere Frau, die während der Lesung praktisch zu jeder Silbe genickt hatte und jetzt ein über das andere Mal straordinario, fantastico sagte. Der Dichter trat ab, ließ sich ein Glas Wasser geben und hielt eine Weile den Atem an, um einen bösen Schluckauf zu
bekämpfen, den ich für unterdrücktes Schluchzen gehalten hatte. Dann legte er, nachdem er vergeblich in sämtlichen Taschen seines Sportsakkos herumgesucht hatte, Zeige- und
Mittelfinger zusammen, schwenkte sie vor dem Mund und signalisierte dem Buchhändler, dass er zu rauchen und sich vielleicht kurz unters Volk zu mischen wünsche. Straordinario-fantastico , die sein Signal bemerkt hatte, zückte sofort ihr Zigarettenetui. » Stasera non dormo, heute Nacht werde ich
kein Auge zutun, das ist der Sündenlohn der Poesie«, sagte sie.
Inzwischen war allen der Schweiß ausgebrochen, drinnen wie draußen herrschten Gewächshaustemperaturen.
»Um Gottes willen, mach die Tür auf«, rief der Poet dem Buchhändler zu. »Wir ersticken ja hier.« Signore Venga holte einen
kleinen Holzkeil, öffnete die Tür und klemmte den Keil zwischen Hauswand und Bronzerahmen.
»Besser?«, fragte er ehrerbietig.
»Nein. Aber es ist schon gut zu wissen, dass die Tür auf ist.«
Oliver sah mich fragend an. Hat’s dir gefallen? Ich zuckte die Achseln, als wollte ich mir ein Urteil noch vorbehalten, aber das war nicht
ehrlich – es hatte mir sehr gut gefallen.
Mehr noch als das Gedicht gefiel mir der ganze Abend. Jeder Blick, der sich mit meinem kreuzte, war wie ein Kompliment oder wie eine Frage und Verheißung. Ich war wie elektrisiert von den
Witzeleien, der Ironie, den Blicken, den lächelnden Mienen, die sich über meine Anwesenheit zu freuen schienen, von der beschwingten Stimmung, die alle und alles zu umfassen schien.
Ich beneidete all diese Menschen um ihr Leben und dachte an das jeder Libido beraubte Dasein meiner Eltern mit ihren lähmenden Luncheinladungen und Mittagsplagen, unser Puppenhausdasein in
unserem Puppenhausheim und an das letzte Schuljahr, das mir bevorstand. Gegen das, was sich hier vor mir auftat, schien das alles Kinderkram. Warum sollte ich in einem Jahr nach Amerika gehen, wenn
ich meine vier Studienjahre ebensogut damit verbringen konnte, Lesungen wie dieser zu lauschen, herumzusitzen und zu reden, wie manche es jetzt gerade taten? In dieser kleinen beengten Buchhandlung
konnte ich mehr lernen als an einer der berühmten Hochschulen auf der anderen Seite des Atlantiks.
Ein älterer Mann mit langem Fusselbart und Falstaffbauch brachte mir einen Scotch.
» Ecco .«
»Für mich?«
»Natürlich für dich. Haben dir die Gedichte gefallen?«
»Sehr«, sagte ich und versuchte mich – weiß der Himmel warum – an einer ironisch-verlogenen Miene.
»Ich bin sein Pate und respektiere deine Meinung«,
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